Das größere Wunder: Roman
einem vorbeiziehenden Sherpa mitzugeben, doch Marc, der ein hohes Tempo vorlegte, war nicht zum Anhalten bereit.
»Das hier ist der gefährlichste Teil der gesamten Route«, entgegnete er, als Jonas eine Stunde später zum dritten Mal über die Hitze klagte. »Nirgendwo auf dem Berg sind mehr Menschen gestorben als in diesem Eisbruch. Du brauchst zum Umziehen eine Viertelstunde, ich kenne das. Außerdem stimmt hier etwas nicht. Ich will schnell raus.«
»Wie kommst du darauf, dass ich eine Viertelstunde brauche, um eine Jacke und einen Pullover auszuziehen?« schnaufte Jonas hinter ihm. »Und was heißt denn, hier stimmt etwas nicht?«
»Das kann ich dir auch nicht sagen. Irgendetwas stimmt mit diesem Tag nicht. Bin froh, wenn wir in Lager 2 ankommen.«
»Jetzt geht das bei dir auch schon los mit den Ahnungen.«
»Nenn es, wie du willst. Aber ich konnte mich bisher immer ganz gut auf meine innere Stimme verlassen.«
»Ich auch auf meine, und die sagt: Stop! Dehydration! Hitzestau! Kreislaufkollaps!«
»Also gut, da vorne können wir kurz rasten. Du ziehst die Jacke aus, so schnell du kannst, wir trinken so viel Tee, wie wir runterbringen, und dann nichts wie weiter!«
Als sie an die Stelle kamen, wischte sich Jonas den Schweiß von der Stirn und aus dem Gesicht, zog die Daunenjacke aus und wechselte die Handschuhe. Genau das war der Moment, in dem er das Geräusch hörte, ein Knacken, das innerhalb von zwei Sekunden zu einem unheimlichen Getöse anschwoll. Darauf ertönte ein peitschendes Krachen, als seien fünf oder sechs Lastwagen vom Himmel gefallen. Die Luft schien ebenso zu vibrieren wie der Boden, und Jonas sah riesige Eisbrocken auf sie zuspringen wie gigantische weiße Gummibälle.
»Deckung!« schrie Marc hinter ihm.
Deckung, dachte Jonas, es gibt hier keine Deckung. Ich kann nirgendwohin.
Das Bombardement dauerte zwanzig oder dreißig Sekunden, während denen Jonas ruhig dastand und sich einige Male zur Seite drehte, als gäbe er dem Drängen einer Welle nach. Er wartete immer so lange wie möglich, bis er vorhersagen konnte, wohin der nächste Eisklotz unterwegs war, erst dann spannte er alle Muskeln an und sprang. Er hatte keine Ahnung, wo sich Marc befand, er konnte nicht nach hinten schauen, er konnte bloß aufmerksam bleiben und versuchen, den Eisgranaten auszuweichen.
Nachdem ein Brocken von der Größe einer Waschmaschine an Jonas vorbeigerauscht war, kehrte Stille ein. Aber nur kurz.
Jonas erkannte an Marcs Schrei, dass etwas passiert sein musste. Er vergewisserte sich, ob sie nicht gleich von der nächsten Lawine überrascht wurden, und lief zurück zu Marc, der einige Meter nach unten geschleudert worden war.
»Was für ein Glück«, rief er aus, »ich dachte schon, ich muss dich unter diesem Block herauskratzen!«
»Das Mistding hat mich ja auch erwischt«, sagte Marc mit schmerzverzerrtem Gesicht, »hat sich aber nicht zum Bleiben überreden lassen. Da unten ist es mir draufgeknallt! Drecksbiest, elendes!«
Er zeigte auf seinen Unterschenkel. Obwohl die Überhose zerfetzt war, konnte Jonas weder Blut noch andere Spuren einer Verletzung ausmachen.
»Kannst du stehen?« fragte er. »Kannst du weitergehen?«
Marc legte den Kopf zurück und lachte, obwohl er von Sekunde zu Sekunde blasser wurde.
»Was ist denn daran so komisch?«
»Ich muss an Paco denken. Hahahaha, das ist wirklich saukomisch! Jetzt weiß ich, warum er bei mir nichts gesehen hat! Weil ich gar nicht hinaufgehe! Hahahaha!«
»Was redest du da für wirres Zeug? Hast du auch was am Kopf abgekriegt?«
»Hahahaha! Weißt du, was das Beste ist? Hahahahaha, ohne die Pause, hahaha, ich kann nicht mehr …«
»He, was ist los mit dir?«
»Hahaha, ohne deine blöde Rast wären wir jetzt so was von tot, ist dir das klar? Hahahaha! Gratuliere! Das hast du gut gemacht! Immer schön warm anziehen! Hahahaha! Aua! Verdammt!«
Jonas wusste nicht, was er sagen, geschweige denn was er nun unternehmen sollte.
Marc nestelte in seiner Jacke und förderte ein Schweizermesser zutage. Er reichte es Jonas und deutete auf sein Bein.
»Abschneiden?«
»Aufschneiden. Die Hose und die Unterhosen.«
»Aber dann kannst du doch nicht weiter hoch!«
»Jonas, ich weiß, dass du unter Schock stehst, das war ziemlich knapp. Aber wir haben keine Zeit mehr für lange Unterhaltungen, ich beruhige mich auch wieder. Der nächste Sérac kann jederzeit zusammenkrachen. Mein Gott, ich hasse diesen Eisbruch, ich habe ihn immer gehasst!«
»Okay,
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