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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Verankerung und in die Tiefe gerissen.
    Auf der anderen Seite des Abgrunds herrschte bereits rege Betriebsamkeit. Die westlichen Kunden liefen hektisch umher und gestikulierten, Sherpas und Bergführer hielten sich Funkgeräte ans Ohr. Jonas erkannte unter den Wartenden Sven und Alex, dahinter standen Ennio, Carla und Sam. Von Hadan war nichts zu sehen.
    »Alles in Ordnung bei euch?« rief Sven über die Spalte.
    »Marc ist verletzt und muss runter! Wann kommt man hier wieder durch?«
    »Ist in Arbeit! Kann es nicht abschätzen!«
    Jonas streckte einen Daumen hoch und erstattete Marc Bericht.
    »Das klingt ja großartig«, sagte dieser und seufzte.
    Jonas sah auf Marc hinunter und fluchte innerlich. Marcs Schmerzen schienen immer stärker zu werden, und seine Gelassenheit machte Jonas sprachlos. Er selbst hätte vermutlich mit seinem Geschrei den nächsten Sérac zum Einsturz gebracht.
    Unvermittelt packte ihn Marc am Hosenbein und zog ihn zu sich hinab.
    »Hör gut zu: Du bist ab sofort wieder Teil von Hadans Team! Du kletterst ohne mich weiter! Mich transportieren ein paar Sherpas runter, um mich brauchst du dir keine Gedanken machen.«
    »Sicher nicht! Ich begleite dich bis Pheriche oder nach Kathmandu, oder wohin immer sie dich verfrachten. Was würdest denn du an meiner Stelle tun?«
    »Ich würde auf diesen blöden Berg steigen, verflucht! Dann würde ich runterkommen und dir eine Flasche Whisky ins Krankenhaus bringen, das würde ich machen! Jonas, ich brauche dich nicht! Ich bin kein kleines Kind, und das ist das siebente oder achte Mal, dass mir ein Bein wieder zusammengenagelt werden muss! Willst du mir im Aufwachraum die Hand halten?«
    »Ich lasse dich doch nicht allein!«
    »Ich hau dir so aufs Maul, du …«
    »Stop!« Jonas musste lachen. »Wir warten auf einen Arzt, danach sehen wir weiter.«
    »Jonas. Hör gut zu. Hör mir zu. Jonas, schau mich an. Dieses Schönwetterfenster wird sich schließen. So schnell wie möglich rauf, ganz schnell wieder runter, das ist deine Chance. Glaubst du, du kannst in einer Woche wiederkommen und dann dein Glück versuchen? Der Monsun ist fast da! Entweder jetzt oder nächstes Jahr! Dann heißt es aber zurück zum Start!«
    Jonas fiel keine Antwort ein.
    »Denk mal darüber nach, bis der Arzt da ist. Wenn einer kommt. Mein Gott, hoffentlich ist es nicht Helen selbst, sonst bin ich tot!«
    »Ich sage doch, so schlimm ist sie nicht.«
    »Oder der verrückte Hautarzt! Ich kann mir gut vorstellen, wozu der imstande ist. Der hält dieses Knochenstück für ein Geschwür und packt den Bunsenbrenner aus.«
    Irgendwann versiegte Marcs Redestrom, und Jonas wusste nicht, wie er ihn noch aufheitern konnte. Ihm blieb nur, ihm wie in einem billigen Film den Schweiß von der Stirn zu wischen und darauf zu achten, dass er es warm genug hatte. Über die Gefahr, die ihnen jederzeit von oben drohte, dachte er nicht nach.
    Mehrmals ging er zur Gletscherspalte, so hatte er wenigstens das Gefühl, etwas zu unternehmen. Eine neue Leiter war noch nicht in Sicht. Dafür tummelten sich auf der anderen Seite bereits Dutzende Bergsteiger. Einige ungeduldige Westler versuchten rechts und links der Spalte Alternativen zur Leiter auszukundschaften, was die Sherpas in Aufregung versetzte, die sie unentwegt anflehten, nicht vom geplanten Weg abzuweichen.
    »Die drehen völlig durch«, sagte Marc, als ihm Jonas darlegte, was sich hinter ihnen abspielte. »Wahrscheinlich schaffen sie es, noch einen Eisturm einstürzen zu lassen. Wir sollten Helen verständigen, damit sie Hadan klarmacht, dass er seine Leute da schleunigst wegholen muss.«
    Kurz nachdem Jonas den Funkspruch abgesetzt hatte, hörten sie von oben Stimmen, die rasch näher kamen. Bald darauf tauchten bekannte Gesichter über der Eiskuppe vor ihnen auf.
    »Das Ding hier ist ziemlich behelfsmäßig, aber für die Strecke bis zum Basislager sollte es funktionieren«, sagte Tiago und legte eine Trage neben Marc ab. »In der Eile konnte ich leider nichts Besseres zusammenzimmern. Der Arzt kommt gleich hinter uns.«
    »Sherpas, die dich runterschaffen, sind auch unterwegs«, sagte Anne, »müssen jeden Moment da sein. Horcht, sind sie das schon?«
    »Los«, Tiago zog Anne mit sich, »ich will aus dieser Scheiß-Mausefalle raus. Wir sehen uns!«
    »Alles Gute!« sagte Anne.
    Jonas rief ihnen einen Dank hinterher, doch sie waren schon wieder hinter der Eiskuppe verschwunden.
    »Da wundert man sich doch«, sagte Jonas.
    »Mit denen hätte ich nicht

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