Das größere Wunder: Roman
beobachten.
Von den Haien erzählte er ihr lieber nichts.
»Du willst da jetzt doch nicht etwa rausgehen«, sagte Marie zu ihm, als er nach dem Frühstück wieder in seinen Neoprenanzug schlüpfte.
»Was denn sonst?«
»Weil du so etwas nicht machen kannst, wenn ich dabei bin.«
»Siehst du den langen Kerl da drüben? Das ist Kim. Kim ist mein Partner hier, ich stelle euch gleich vor. Wenn ich stürze, fischt er mich raus. Später tauschen wir, er surft, und ich ziehe ihn mit dem Jetski auf die Welle.«
Er stieg in seine Stiefel und setzte die Mütze auf.
»Warum schaust du so? Hier surfen wir alle angezogen, wir sind leider nicht in Hawaii. Ich finde das ja auch nicht gut, weil mir das Gefühl in den Füßen fehlt. Aber anders geht es eben nicht.«
Erst als sie sich abwandte, bemerkte er, dass etwas nicht stimmte.
»Hey! Was ist denn los?«
»Du hast mich nicht verstanden.«
»Was habe ich nicht verstanden?«
Sie konnte kaum sprechen, ihre Stimme setzte immer wieder aus, und sie schluckte unentwegt.
»Wenn ich nicht dabei bin, mach, was du willst. Aber in meiner Gegenwart bringst du dich sicher nicht um. Bitte. Ich ertrage das nicht, ich kann da nicht zusehen.«
Jonas schämte sich. In seiner Sehnsucht nach dem Meer war ihm Maries Besorgnis gar nicht aufgefallen, er hatte nur sein Vergnügen vor Augen gehabt und sich nicht mehr darum gekümmert, wie diese Welle auf jemanden wirken musste, der das erste Mal hier war.
Er zog sich um, warf die ganze Ausrüstung in den Leihwagen und alberte auf dem Rückweg in die Stadt so lange herum, bis sie wieder zu lachen anfing.
Überhaupt schätzte Marie keine allzu aufregenden Freizeitbeschäftigungen, auch als Schülerin war sie nur deshalb Turmspringerin geworden, weil sie in den Trainer verliebt war. Niemals hätte sie sich mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug gestürzt, sie bekundete keinerlei Interesse an schnellen Autos oder am Drachenfliegen, beim Skilaufen wurde sie von Anfängern und kleinen Kindern überholt, von Sport hielt sie generell nicht viel, ja sie hasste es sogar zu wandern, und als Jonas das begriffen hatte, erschien ihm ihre Bereitschaft, mit ihm stundenlang durch tiefsten Wald zum Baumhaus zu marschieren, noch einmal in neuem Licht.
Marie liebte das Meer. Sie liebte Stille. Sie liebte es, an schönen Orten zu sitzen, einem Geräusch oder einer Melodie nachzuspüren und sich treiben zu lassen. Mehr brauchte sie nicht. Jedenfalls keine jener bewegungsintensiven Unternehmungen, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielten. Gewalt in Filmen irritierte sie, und speziell gegen Messer hatte sie eine so große Abneigung, dass sie Gemüse beim Kochen nur mit der Schere zerteilte.
»Ich habe auch so genug Angst vor dem Tod«, sagte sie im Flugzeug, das sie von San Francisco nach New York brachte, von wo es dann zu ihm nach Hause gehen sollte.
»Wer hat das schon.«
Auf ihren fragenden Blick fügte er hinzu:
»Man kann nicht genug oder zuviel Angst vor dem Tod haben. Ich glaube, das ist falsch gedacht.«
»Ich habe große Angst vor dem Tod«, beharrte sie. »Vor dem Tod der anderen fast noch mehr als vor meinem. Und ich will nicht leiden müssen. Der Tod selbst erschreckt mich weniger. Allerdings ertrage ich die Vorstellung nicht, geliebte Menschen zurücklassen zu müssen.«
»Das verstehe ich gut.«
»Entschuldige.«
»Nein, schon in Ordnung.«
»Hast du denn gar keine Angst vor dem Tod?«
»Angst ist nicht der richtige Begriff. Ich glaube, es geht nicht um den Tod, denn sterben müssen wir alle. Es geht um die Umstände.«
»Du meinst, ob man dahinsiecht oder schnell stirbt?«
»Nein, davon rede ich auch nicht, obwohl mir zum Beispiel der Gedanke an ein Wachkoma wirklich Angst macht. Ich will sagen, es geht vielleicht mehr um die Umstände des Todes, die ihn leichter oder schwerer machen. Ob man dabei von Dunkelheit umgeben ist, oder ob etwas Böses, Fremdes auf den Sterbenden einwirkt. Ob er in den Händen des Guten ist oder ob sich etwas über ihm zusammenbraut. Insofern verstehe ich Menschen, die nach der Letzten Ölung verlangen. Ich denke, sie wollen etwas bannen.«
»Keine Ahnung, was du meinst, du König der Zeitkapsel.«
»Hört sich alles ein wenig idiotisch an, stimmt.«
Sie lachte.
Er betrachtete sie eine Weile von der Seite.
»Was machst du da?« fragte sie lächelnd, ohne von ihrem Buch aufzusehen.
»Dich besiegt er auch nicht«, sagte Jonas.
»Wie bitte, wovon redest du?«
»Ich wollte nur sagen, du lässt dir
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