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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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sich, glücklich und verwirrt, während Marie neben ihm das Lied über eine Frau schrieb, die vor Jahrhunderten den Berg hochgejagt und getötet worden war und von der sich schließlich herausstellte, dass diese Frau Marie selbst gewesen war, in einem anderen Leben.
    Er lernte auch Maries Welt kennen. Nicht nur die Konzerte, die Touren, die diensteifrigen Veranstalter und die Wichtigtuer, denen sie Interviews geben musste und die sie alle ins Bett kriegen wollten. Sie fuhren zu ihr nach Hause nach England, sie stellte ihm ihre Mutter vor, er durfte die Kinder ihrer Schwester zur Schule bringen, sie zeigte ihm ihre erste Gitarre, auf die er seinen Namen schreiben musste, und alle Orte ihrer Heimatstadt, mit denen sie etwas verband.
    Und dann, eines Nachmittags, knapp ein Jahr nach seinem Sprung in den Rio Santos, bat sie ihn, ganz ehrlich zu ihr zu sein.
    »Ich bin doch immer ganz ehrlich zu dir.«
    »Ich weiß schon. Ich meine es anders. Heute darfst du nichts tun, was du nicht hundertprozentig willst.«
    »Ich habe seit meiner Kindheit noch nie etwas getan, das ich nicht hundertprozentig wollte.«
    »Das glaubst auch nur du, mein Herz.«
    Sie verband ihm während der Taxifahrt nicht die Augen, doch ihm wäre das sogar recht gewesen. Er hatte keine Ahnung, was ihm bevorstand, wollte es aber auch nicht zu früh erfahren.
    Als der Wagen hielt, zahlte er mit gesenktem Blick. Beim Aussteigen machte er die Augen zu, worauf er um ein Haar von einem Bus überfahren worden wäre, hätte Marie ihn nicht zurückgerissen. Wie üblich kommentierte sie den Zwischenfall mit keinem Wort.
    Das Motorengeräusch des Taxis verklang in der Ferne, und Jonas fand sich in einer menschenleeren Straße wieder, in der nicht einmal Autos parkten. Die zwei Häuser gegenüber wirkten verlassen, im Graben lag das Wrack eines uralten Rasenmähers, und der Wind trug die Gerüche einer Müllkippe heran.
    »Wie romantisch«, sagte er gedehnt.
    »Wohin ich mit dir will, ist da vorne um die Ecke, aber ich muss dich vorher etwas fragen.«
    »Na da bin ich ja gespannt.«
    Sie schob den Ärmel ihres T-Shirts hoch.
    »Gefällt dir dieses Tattoo?«
    »Es gefällt mir sogar sehr«, sagte er mit brüchiger Stimme, denn nun hatte er verstanden.
    Es fiel ihm schwer, ruhig stehenzubleiben. Er bemühte sich nach Kräften, die Situation in seine innere Galerie ewiger Augenblicke aufzunehmen. Er betrachtete das Tattoo, sah ihr in die Augen, strich ihr mit zitternden Fingern ungeschickt über die Schulter und über den Arm, fuhr ihr durchs Haar wie ein Kobold.
    »Weißt du, was es bedeutet?«
    Er nickte.
    »Du weißt, was es für mich bedeutet? Du erinnerst dich?«
    Wieder nickte er.
    »Möchtest du das gleiche haben?«
    Er nickte.
    »Jetzt sofort?«
    Er sagte kein Wort. Er zog sie an sich.
     
    Von jenem Tag an waren sie für ihn verheiratet. Wenn sein Blick unter der Dusche oder beim Sport auf seinen Oberarm fiel, sah er ihr Zeichen, eingestochen in seinen Körper. Er gehörte ihr, und er wollte ihr gehören. Sie gehörte ihm, denn sie wollte ihm gehören. Mochten manche darüber lächeln, es kitschig finden oder gar albern, für sie beide war das Zeichen wertvoller als jeder Ring, denn es hatte viele Jahre auf ihn gewartet.
    Im Übrigen herrschte zwischen ihnen niemals Zwang, zumindest meinte Jonas damals noch, sie zu nichts zu zwingen, sie nicht zu etwas zu drängen, was nicht ihrem Willen entsprach. Es war, was er sich gewünscht hatte, doch es war noch viel mehr, es war so komplex und so unergründlich, dass in Wahrheit alles passieren konnte, doch das verstand er damals nicht.
    Oft lag er neben ihr, wenn sie schlief, und fragte sich, was sie wohl in jenen Momenten getan hatte, als er sie sich ausgemalt hatte, früher, lange ehe sie sich kannten. Hatte sie an ihn gedacht? Hatte sie getanzt, gesungen, geschrieben? War sie in einem Bett gelegen wie jetzt gerade, neben einem anderen? Sie hatte vor ihm so einige Männer gehabt, was ihn jedoch keineswegs belastete. In jedem Leben gab es ein Davor und ein Jetzt.
    Direkt im Anschluss an diese nebligen, glücklichen Tage in ihrem Heimatort zeigte er ihr Mavericks, jene berüchtigte Welle südlich von San Francisco, von der die wagemutigsten und besten Big-Wave-Surfer der Welt angezogen wurden, mit denen Jonas auch mit dem aufwendigsten Training niemals hätte mithalten können. Er fuhr mit dem Jetski so nahe ran, wie es ihm vertretbar erschien, und ließ Marie die unglaubliche Energie dieser wunderschönen Walze

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