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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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unbedingt gerechnet«, gestand Marc. »Aber ich nehme die Trage von jedem an, und wenn der Typ, der sie mir hinstellt, hinkt und Hörner hat.«
    »Nein, darüber müssen wir uns noch unterhalten.«
    Bald darauf erschien über der Eiskuppe Bernie, jener Arzt, der in Lager 2 erst den Belgier versorgt und tags darauf auch Jonas untersucht hatte, und ihn begleiteten vier Sherpas, unter ihnen Dawa.
    »Das klappt hier ja wie geschmiert«, freute sich Jonas.
    Der Arzt warf einen Blick auf Marcs Bein und kratzte sich an der Schläfe.
    »Dir muss ich nichts vormachen, oder?«
    »Musst du nicht. Danke fürs Kommen.«
    »Ich schiene dir diesen Bruch notdürftig, danach schleppen dich die Herren hier runter. Ich fordere einen Hubschrauber an, irgendjemand wird den schon bezahlen.«
    »Ja, und zwar ich«, sagte Jonas.
    »Den kann ich mir gerade noch leisten«, sagte Marc. »Nach unten tragen wird allerdings nicht so schnell möglich sein.« Er deutete mit dem Daumen hinter sich. »Da fehlt eine Leiter.«
    »Die Leiter hängt wieder!« rief einer der Sherpas, und zur Bestätigung stampften die ersten Westler, die an der Spalte ausgeharrt hatten, nach oben. Keiner von ihnen hatte einen Blick übrig für Marc, an dem sie vorbeisteigen mussten.
    »Was sind denn das für Leute?« empörte sich Jonas.
    »Ganz recht haben sie«, widersprach ihm Marc, während Bernie daranging, die Schiene anzulegen. »Alles taut und schmilzt, es ist nur eine Frage der Zeit bis zum nächsten Einsturz. Was sollen sie sich bei mir aufhalten? Helfen können sie mir sowieso nicht. Au! Bist du … aua! Geht das nicht etwas sanfter?«
    »Sicher geht das sanfter, du musst dich bloß vorher von mir k. o. schlagen lassen«, sagte Bernie grimmig.
    »Hau jetzt ab!« befahl Marc Jonas. »Ich spreche mit Hadan, wenn er vorbeikommt oder ich ihm unterwegs begegne. Ihr trefft euch in Lager 1.«
    »Das kann ich nicht.«
    »Hör auf mit dieser albernen Ritterlichkeit!« schrie Marc. »Du bist ohne mich nach Nepal geflogen, um den Everest zu besteigen! Mich hast du zufällig getroffen! Du trägst für mich keine Verantwortung, du trägst nur für dich selbst Verantwortung. Scher dich also endlich aus diesem Eisbruch fort, klettere da ganz hinauf und komm heil wieder runter! Ab mit dir! Wir sehen uns in Kathmandu.«
    Er zerrte Jonas’ Jacke unter sich hervor und schleuderte sie in seine Richtung.
    »Könntest du bitte mal stillhalten?« schimpfte Bernie.
    In diesem Moment kamen Sven, Carla und Ennio hinzu. Nachdem Marc sie kurz über den Inhalt ihrer Auseinandersetzung aufgeklärt hatte, nahm Sven Jonas beiseite.
    »Verabschiede dich von ihm, ihr seht euch bald wieder. Du gehst jetzt mit uns zum Gipfel.«
    Obwohl Sven leise gesprochen hatte, musste Marc seine Sätze verstanden haben, denn seine Miene drückte eindeutig Zustimmung aus: Endlich ein vernünftiger Mensch.
    »Du meinst wirklich?« fragte Jonas.
    »Man reiche mir eine Waffe«, tönte es vom Lager des Verletzten.
     
    In Lager 1 wartete Jonas, von Sherpas mit Tee versorgt, auf Hadan. Er hatte das letzte Stück des Eisbruchs so zügig durchstiegen, dass er atemlos und mit Herzrasen im Schnee saß. Trotzdem packte er sofort wieder den Brief vom Rucksack in die Jackentasche, denn der Rucksack konnte leicht irgendwo in der Landschaft stehenbleiben.
    Wohl fühlte er sich nicht, und ihm ging vielerlei durch den Kopf. Marcs Unfall, die Frage, ob er richtig gehandelt hatte, indem er ihn zurückließ, die Frage, ob er sich ohne ihn auf dem Berg zurechtfinden würde. Zudem suchten ihn Bilder der herabstürzenden Eislawine heim. Jetzt, in der relativen Sicherheit des Lagers, wurde ihm bewusst, wie knapp er dieser Gefahr entronnen war.
    Jedem der neu ankommenden Teammitglieder musste er den genauen Hergang des Unglücks erzählen. Er schmückte nichts aus und ließ nichts weg, und die Reaktion der Zuhörer war immer die gleiche.
    Als Hadan in das Zelt schaute, in dem sich Jonas gerade zum Ausruhen ausgestreckt hatte, fing dieser wieder an, von jenem Moment zu berichten, in dem er das erste Krachen gehört hatte, doch der Expeditionsleiter unterbrach ihn.
    »Weiß ich alles schon von Marc. Ihr habt Pech gehabt, das kann passieren.«
    »Glück haben sie gehabt«, mischte sich von draußen Sam ein, »das kann man nur ein Schweineglück nennen!«
    »Sam, wir haben offenkundig unterschiedliche Auffassungen von Glück«, sagte Hadan. »Egal, wir müssen nach vorne schauen. Freut mich, dass du wieder mit uns kletterst, Jonas. Mir

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