Das größere Wunder: Roman
hat diese Zweierteam-Idee von Marc sowieso nicht gefallen. Nur haben wir jetzt einen Sherpa zuwenig. Mit dir hatte ich ja nicht mehr gerechnet.«
»Also das kann ja wirklich kein Problem sein«, fuhr Sam erneut dazwischen. »Die Zahl der Sherpas spielt vor Lager 3 zumindest für uns gar keine Rolle, wahrscheinlich bis zum Südsattel nicht. Und wenn du mich fragst, werden spätestens da ein paar von uns aufgegeben haben, wodurch Sherpas frei werden.«
»Ich muss dir sagen, dass ich das Freiwerden menschlicher Ressourcen aus dem von dir erwähnten Grund bereits einkalkuliert habe. Diese Rechnung geht leider nicht auf.«
»Du bist ja ein genialer Psychologe«, sagte Jonas.
»Darf ich fragen, wem von uns du nicht mehr als den Südsattel zutraust?« rief Sam aufgebracht. »Wer von uns ist denn deiner Ansicht nach hier nur Ausflügler? Stehe ich auf dieser Liste?«
»Sam, lass es gut sein, bitte. So war es nicht gemeint. Wir werden genug Sherpas haben, glaub mir. Wir haben jetzt keine Zeit für Streitigkeiten, wir müssen weiter, wir alle. Heute Abend in Lager 2 können wir uns unterhalten. Also los!«
Es würde schwer sein, je zu beschreiben, was Jonas während seiner Wanderung durch das Western Cwm empfunden hatte. Glück? Ja. Ehrfurcht? Ganz gewiss. Angst? Irgendwo tief in sich – wahrscheinlich, ja. Aber noch viel mehr als das. Er konnte die Gefühle, die hier auf ihn einstürmten, nicht voneinander trennen, hier an diesem unermesslichen Ort zwischen diesen gigantischen Bergen, die so viel älter waren als die Menschheit. Er war eine Ameise im ewigen Eis, er kam an gewaltigen Sphinxen vorbei und musste beten, dass sie die Augen schlossen und ihn passieren ließen.
Manchmal wurde ihm für einen Moment klar, was gerade geschah. Er bewegte sich auf eine Grenze zu, eine Grenze seiner selbst, von der er nicht viel wusste. Es ging um sein Leben, auch wenn die Sonne so freundlich vom Himmel schien, das wusste er. Den höchsten Preis zahlen nannten es manche Leute, wenn jemand am Berg verunglückte. Jonas hatte diese Wendung nie gemocht, sie erschien ihm zu devot, doch nun, zwischen diesen überwältigenden Bergen, verstand er, dass genau das der richtige Ausdruck war. Man zahlte den höchsten Preis. Man zahlte und ließ alles zurück.
Der Brief! Ja, er hatte ihn umgepackt. Und er steckte noch in seiner Jackentasche.
Während des Aufstiegs verschaffte er sich Gewissheit, dass der Tote, den er hier gesehen hatte, keine Halluzination gewesen war. Der blaue Sack lag an derselben Stelle wie das letzte Mal, halb bedeckt von Schnee. Jonas nickte ihm zu.
Die letzte Stunde vor Lager 2 brachte Jonas an seine körperlichen Grenzen. Es ging steilen Fels empor, und bei jedem Schritt spürte er, wie sehr ihm die Ereignisse des Tages in den Knochen saßen. Er wurde oft überholt, von den meisten stumm, von einem Mann im gelben Anzug mit einem groben Stoß, auf den zu reagieren Jonas viel zu erschöpft war.
Gyalzen, neben Ang Babu, dem Bergsirdar, der stärkste Kletterer unter den Sherpas und fixes Mitglied des Gipfelteams, empfing ihn in Lager 2 mit Tee und einem Lächeln.
»Ich hoffe, ich werde bis zum Gipfel dein Träger sein«, sagte er.
»Für mich wäre das sehr wünschenswert, aber wieso hoffst du es?«
»Du hast Glück gehabt. Also bringst du Glück. Es wäre mein viertes Mal auf dem Gipfel, damit hätte ich meinen Bruder überholt.«
»So wie ich mich im Augenblick fühle, werde ich mir für ein Gipfelbild in Kathmandu eine Postkarte kaufen müssen.«
Jonas musste husten. Der Reiz steigerte sich zu einem Hustenkrampf, der den Bereich um seine gebrochene Rippe so stark erschütterte, dass er sich vor Schmerz spontan übergab. Er schleppte sich beiseite, weg von den Zelten, und wartete mit Tränen in den Augen auf das Ende des Anfalls, wobei er versuchte, sich in Gedanken an einen weit entfernten Ort zu versetzen, an einen warmen Ort, nach Moi.
Das ist nur dein Körper, dachte er. Das bist nicht du. Das Du steckt tiefer. Versuch den Schmerz zu sehen. Und dann schau weg.
Es war Zach, der ihm beigebracht hatte, Schmerzen zu visualisieren. Aber Zach war mit Sicherheit nie auf den Everest gestiegen.
Abends ging Hadan von Zelt zu Zelt und erkundigte sich, ob alles in Ordnung war.
Die meisten klagten über kleinere Wehwehchen. Nina hatte eine Frostbeule am Fuß, Ennio machte ein entzündeter Backenzahn zu schaffen, und mit Manuels Augen schien etwas nicht zu stimmen. Als Hadan bei Jonas vorbeikam, zeigte er
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