Das größere Wunder: Roman
sich jedoch im Großen und Ganzen zufrieden mit dem Zustand seines Teams.
»Und du«, fragte er Jonas, »hast du den Schock einigermaßen überwunden?«
»Ich glaube schon. Wie geht es Marc?«
»Dem geht es gut. Jetzt reden wir über dich. Brauchst du etwas? Kann ich dir irgendwie helfen? Hast du Fragen?«
»Ja, ich möchte wissen, wie es Marc geht.«
»Morgen legen wir ohnehin einen Ruhetag ein, den letzten. Du rastest dich aus und bist übermorgen in Topform. Hast du Kopfschmerzen? Schwindelgefühle?«
»Keine Beschwerden, bis auf diesen Husten und die Rippe.«
»Hilft das Korsett ein wenig?«
»Hab ich noch nie benutzt.«
»Das solltest du aber.«
»Darin ersticke ich. Helen findet es in meinem Zelt, wenn sie es braucht.«
Eine Hand auf sein Knie gestützt, saß Hadan eine Weile neben Jonas und sah schweigend zu, wie dieser versuchte, das Nudelgericht, das Mingma gebracht hatte, in sich hineinzulöffeln.
»Hast du etwas auf dem Herzen?« fragte Jonas, seine linke Hand betrachtend, deren Fingerspitzen sich ein wenig taub anfühlten.
»In gewisser Weise.«
»Das hört sich nach etwas Gewichtigem an.«
»Jonas, was sollen wir tun, wenn du stirbst?«
Die Tragweite dieser Frage überraschte Jonas, er duckte sich weg wie unter einem Schlag. Sein erster Impuls war, sie von sich zu weisen, sie ins Lächerliche zu ziehen.
»Wie meinst du das?«
»Was soll mit deinen sterblichen Überresten geschehen?«
Dieser Satz klang für Jonas vollends absurd, und er lachte. Hadan schüttelte unzufrieden den Kopf.
»Das war eine ernst gemeinte Frage.«
»Gut. Ich verstehe. Ja, ich könnte hier sterben. Aber was meinst du? Ich gehöre keiner Glaubensrichtung an, falls es darum geht.«
»Die Hauptfrage lautet: Sollen wir versuchen, deine Leiche zu bergen, um sie in deine Heimat zu überführen, oder sollen wir dich hierlassen?«
»Ich weiß nicht. Was bedeutet das? Was ist denn üblich?«
Nun lächelte Hadan.
»Du musst die Situation realistisch sehen. Je höher am Berg jemand stirbt, desto schwieriger ist es, die Leiche nach unten zu schaffen. Dazu kommt, dass die Sherpas abergläubisch sind und mit Toten nichts zu tun haben wollen. Ich habe über mich verfügt, meinen Körper in einer Gletscherspalte zu versenken.«
»Das stelle ich mir unappetitlich vor. Der Gletscher ist doch ständig in Bewegung.«
»Du bist dann bereits tot, Jonas.«
»Befremdlicher Gedanke.«
»Ein unangenehmer Gedanke, aber ich will nur Bescheid wissen. Wie schnell es gehen kann, hast du heute erlebt.«
»Eigentlich ist es mir egal«, sagte Jonas. »Auf keinen Fall soll sich jemand wegen meiner Leiche in Gefahr bringen. Lasst mich einfach liegen, wenn es schwierig werden sollte, mich zu bergen. Und wenn es leicht geht, macht das mit der Gletscherspalte.«
»Bist du sicher?«
»Alles andere erscheint mir unverantwortlich. Und ich bin dann ja schon tot, hast du ja selbst gesagt. Also was kümmert es mich, wo mein Körper vermodert.«
»Kleiner sachlicher Fehler, du vermoderst hier nicht. Du gefrierst.«
»Auch recht. Erzähl mal, was passiert denn, wenn ich tot bin? Je länger ich darüber nachdenke, desto neugieriger werde ich. Das ist ja wie beim eigenen Begräbnis dabeisein.«
»Wenn möglich, fotografieren wir deine Leiche. Solltest du die Kangshung-Wand hinunterstürzen, wird das nicht möglich sein, aber wenn du irgendwo da oben liegenbleibst, was am öftesten passiert, wirst du von uns fotografiert, damit deine Hinterbliebenen keine Schwierigkeiten mit Sterbeurkunden und der ganzen Bürokratie haben. Wir setzen Zeugenaussagen auf und verständigen deine Familie beziehungsweise die Personen, deren Namen du in dem Formular an der betreffenden Stelle eingesetzt hast. Du erinnerst dich?«
»Ja, ich habe da irgendetwas unterschrieben.«
»Solche Kunden lobe ich mir! Nicht lesen, was sie unterschreiben – herrlich.«
»Und kriege ich eine Zeremonie? Werden Teeblätter verbrannt, wird gesungen?«
»Machst du dich lustig? Das solltest du bleibenlassen. Das passt nicht zu dir.«
»Ich mache mich nicht lustig. Oder vielleicht doch, ein wenig. Der Tod erscheint mir so ungreifbar und fern.«
»Er ist aber da«, sagte Hadan bedeutungsvoll und öffnete den Reißverschluss des Zelts. »Da draußen ist er, und ich fürchte, in den nächsten Tagen wird der eine oder andere auf diesem Berg sterben. Ich hoffe, dass es keiner von uns sein wird. Ich werde alles tun, um das zu verhindern.«
»So ähnlich hat sich Marc auch geäußert.
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