Das größere Wunder: Roman
Sagst du mir jetzt, was es von ihm Neues gibt?«
»Der dürfte schon unterwegs nach Kathmandu sein. Wie ich ihn kenne, hat er sich im Hubschrauber eine Dose Bier aufgemacht.«
»Davon müssen wir wohl ausgehen. Und Hank?«
»Der ist auf dem Weg der Besserung. Vermutlich können wir die beiden im selben Krankenhaus besuchen.«
»Sonst noch etwas?«
»Es wird wieder geklaut. In allen Lagern sind Sachen weggekommen. Aber was sollen wir machen?«
Irgendwann in der Nacht, als draußen keine Stimmen mehr zu hören waren, nur der Wind, wie er mit sattem Klatschen gegen die Zeltwand schlug, zog Jonas den Brief hervor.
Auf dem Weg herauf, vermutlich während des Unglücks im Eisbruch, war der Umschlag zerknittert worden. Jonas strich das Papier glatt und betrachtete die Schrift.
Du Trottel, dachte er, das hier ist doch nicht Vom Winde verweht , mach ihn einfach auf.
Aber er konnte es nicht.
Diese Schrift. Die Frau, die das geschrieben hatte, sie war es, sie würde es immer sein. Der leuchtende Punkt ihrer Seele war das Licht, dem er sein Leben lang folgen wollte
Warum das alles, er wusste es nicht
Er holte Sauerstoffflasche, Maske und Regler, die Hadan vorbeigebracht hatte, unter dem zweiten Schlafsack hervor und begann die Handhabung zu trainieren. Es war recht simpel. In technischer Hinsicht zumindest. Die Maske auf seinem Gesicht fühlte sich allerdings fremd an, sie war eng und beklemmend und verstärkte das Gefühl von Isolation, das er ohnehin empfand. Doch ohne sie hatte er keine Chance.
Er nahm den Brief noch einmal zur Hand.
Wann und wo hatte sie ihn Tom und Chris gegeben? An irgendeinem Flughafen? Gar in Kathmandu? Oder – war sie hier?
Er wollte diesen Gedanken nicht denken, aber er lauerte ständig in seinem Hinterkopf und meldete sich mitunter ganz plötzlich, so wie jetzt, und Jonas musste sich zusammennehmen, um nicht einen Schrei auszustoßen. Er presste die Hand gegen die Brust, um seinen Herzschlag zu beruhigen, dabei schmerzte die Rippe, und er schlug wütend mit der Faust auf den Boden.
Was stand drin?
50
Jonas mochte es, Marie im Aufnahmestudio zuzusehen. Ihre Professionalität drückte sich in unzähligen Details aus, so hatte sie etwa eine genaue Vorstellung von der Raumtemperatur. Am wichtigsten war ihr aber die Stimmung, die sich durch eine CD ziehen sollte. Um diese zu erschaffen, wiederholte sie jedes einzelne Take so oft, bis alles daran stimmte, auch wenn die Techniker und die Gastmusiker immer längere Gesichter machten.
»Ich bin auch ein Profi«, sagte der Bassist in einer Zigarettenpause zu Jonas, den er offenbar für einen zufälligen Besucher hielt, »und ich kenne einen Haufen anderer Profis, doch was die da treibt, ist einfach nur idiotisch.«
»Noch so eine Bemerkung, und ich breche dir total professionell ein paar Finger.«
»Was habe ich denn gesagt?«
»Das Falsche.«
Sein Lieblingslied nahm sie ein paar Tage nach diesem Zwischenfall auf, es sollte eine Überraschung für Jonas sein: ihre Interpretation von »Memory« aus Cats .
Als sie ihm das Lied vorspielte, war er überwältigt, von allem, von der Idee, von der Ausführung und besonders von den bangen Blicken, die sie ihm zuwarf, unsicher, ob es ihm denn gefiele.
Er sah sich als Junge in New York neben Werner sitzen, und plötzlich verstand er, was er damals gedacht hatte, er verstand das Lied und sich selbst und seine Vergangenheit und das, was aus ihm geworden war, ein wenig zumindest. Marie spielte Klavier und sang dazu, es war eine schnelle, ausdrucksstarke Nummer ohne Kitsch, ohne Dramatik, ohne Süßlichkeit, selbstbewusst und modern, und er wusste, er durfte sich den Song nicht zu oft anhören, weil er sich jetzt schon die Augen wischen musste. Er hätte nicht in Worte fassen können, was es ihm bedeutete, ihre Stimme dieses Lied singen zu hören, ihre Stimme, die sonst so rauh und nervös klang und bei diesem Lied so glasklar.
Die Farben ihres Alltags waren hell, die Töne leicht und heiter. Sie kannten dieselben Filme und konnten einander jederzeit Zitate daraus zuwerfen, sie hatten die gleiche Abneigung gegen Wichtigtuerei und Großspurigkeit, was besonders in Restaurants zu komischen Situationen führte, sie spielten einander Streiche, über deren Unreife sie sich erst recht amüsierten. Er bemalte nachts ihre Brüste mit wasserfesten Farben, sie schob ihm furchterregende Spielzeugtiere unter die Bettdecke, aus den Krimis, die sie las, riss er die letzte
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