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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Seite, sie schickte ihm unter dem Namen Peter per Fax obszöne Liebesbriefe ins Hotel, die mit riesigen Herzen verziert waren und wegen derer die Rezeptionisten ihn angrinsten oder ihm anzüglich zuzwinkerten. Langweilig war ihnen nie.
    Nur wenn sie arbeitete, wenn sie noch mehr Zeit als sonst mit ihrer Musik verbrachte, wurde diese Verbindung zwischen ihnen gestört, und es kam vor, dass sie einander gegenübersaßen und sich anschwiegen. Er versuchte dann, ein Gespräch in Gang zu bringen, doch wenn sie nicht sofort reagierte, resignierte er, wohl wissend, wie wenig Zweck es hatte, sie aus sich herausreißen zu wollen. Sie würde bleiben, wo sie war, egal was er anstellte.
    Es wäre ihm leichter gefallen, sich damit abzufinden, hätte er das Gefühl gehabt, sie sei während dieser Stunden, Tage, Wochen, mitunter Monate glücklich. Aber es war offensichtlich, wie schwierig diese Phasen für sie waren, wie hart sie rang und kämpfte, für etwas, das sie selbst nicht benennen und das er nicht erkennen konnte. Es war fast wie eine Krankheit, die der eine ausbrütete, während es dem anderen oblag, abzuwarten und die Wärmeflasche ans Bett zu bringen. Vermutlich ging es ihr jedoch mit ihm oft ganz ähnlich. Also sagte er nichts.
    Aber es tat weh. Denn er spürte, wie sehr sie sich trotz allem, was sie verband, während dieser Zeit von ihm entfernte und sich an einen Ort zurückzog, der nur ihr zugänglich war. Diese Distanz schmerzte ihn, obwohl er weitgehend nachvollziehen konnte, was vor sich ging, und obwohl sich Marie bemühte, ihre Abwesenheit gutzumachen, sobald sie wiederaufgetaucht war, sobald sie zurück war in ihrer gemeinsamen Welt. Indem sie versuchte, ihn zu verstehen. Und er sah deutlich, wie mitunter zwei Gegensätze an ihr zerrten.
     
    So oft wie mit Marie war Jonas seit Piccos Tod nicht nach Hause gefahren. Sie mochte alles dort. Sie mochte die Landschaft, sie mochte die Farben, sie mochte die Lieder, die die Jäger spätabends in den Weinstuben sangen, sie mochte die Luft, sie mochte den Morgennebel, sie mochte die Burg, sie mochte Zach und die anderen, sie hatte sogar auf eine intuitive Art etwas für die Piste übrig, und am allermeisten mochte sie das Zimmer, in dem Jonas aufgewachsen war. Dort hörte sie Musik und schrieb selbst Songs, dort telefonierte sie, dort schrieb sie ihre E-Mails, dort dachte sie nach, und einmal, als er ihr eine Tasse Kaffee brachte, sagte sie:
    »Weißt du, warum ich dieses Zimmer so gern habe?«
    »Ehrlich gesagt, frage ich mich das schon seit einiger Zeit.«
    »Weil das so sehr du bist.«
    »Erkennst du mich darin so stark?«
    »Ja, dich und deine ganze Vergangenheit. Du warst so klein und schon hier. Hier waren Mike und Werner und Picco und du. Sie alle waren hier, als du noch ein anderer warst und ich weit weg war.«
    »Ich war schon mit acht der, der ich jetzt bin, fürchte ich.«
    »Im Innersten ja. Aber du hast vieles nicht gewusst. Dieses Zimmer ist voll von Träumen und Erwartungen und dieser Energie, die nur Kinder haben.«
    »Tja, für mich ist das alles schon weit weg.«
    Insgeheim staunte er darüber, wie sehr sich ihre Gedankengänge ähnelten, und er war hingerissen, mit welcher Selbstverständlichkeit sie Namen von Menschen in den Mund nahm, denen sie nie begegnet war und die sich sogar für Jonas inzwischen in historische Figuren verwandelt hatten. Damit schlug sie eine Brücke, wohl ohne es selbst zu wissen, eine Brücke, durch die plötzlich alles Platz hatte in seinem Leben, das weit Zurückliegende, die letzten Jahre, das Jetzt.
    »Komm mit«, sagte er. »Ich will dir etwas zeigen.«
    Sie stand auf und zog sich an, ohne zu fragen. Ein Blick auf ihre Beine genügte, um in ihm den Wunsch aufsteigen zu lassen, sich mit ihr für eine Stunde in dieser alten Welt einzuschließen, doch er verschob das auf später.
     
    »Wir sind nun doch schon eine Weile zusammen«, sagte er im Auto. »Findest du es nicht auch erstaunlich, dass bei uns noch immer ein Blick oder eine kleine Berührung reicht?«
    »Das liegt an den Geheimnissen. Und an der Spannung.«
    »So hätte ich das nicht gesehen.«
    »Ja, an den Geheimnissen voreinander und vor uns selbst. Keiner von uns beiden würde je den anderen anlügen, aber jeder von uns hat noch so vieles, das nur ihm selbst gehört.«
    »Und was meinst du mit Spannung?«
    »Na ja.«
    »Was heißt na ja?«
    »Spannung ist ja auch etwas Gutes.«
    »Was meinst du damit?«
    »Du bist manchmal so – groß. So breit. Ich weiß

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