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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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was müssen wir rechnen!«
    »Mit so was müssen wir rechnen!«
    »Das ist ja lebensgefährlich!« rief Jonas, und alle drei lachten.
     
    7400 Meter. 7500 Meter. 7600 Meter. Die ersten Sonnenstrahlen funkelten in die Wand.
    7700 Meter über dem Meer. Ich gehe hoch. Ich besteige den Mount Everest. Was auf mich wartet, weiß ich nicht, doch es ist etwas Großes. All das hier ist groß. All das hier kann jeden Moment vorbei sein.
    Ein Leben ist nur dann geschützt, wenn es einer Sache gewidmet ist, die größer ist als der Mensch, der es lebt und der Sache dient.
    Ich lebe. Ich atme. Ich atme durch diese Maske, ich bin ein Astronaut auf einem fremden Planeten. Ich erfahre, wo die Möglichkeit des Menschseins endet. Ich bin hier drin. Das da draußen ist weit weg. Aber es ist bereits Todeszone. Wir können hier nicht sein.
    Dieses Eis. Diese Steine. Diese Felsen. Das ganze Jahr über sind sie allein. Während einiger Wochen kommen Menschen vorbei. Die Menschen sind bald wieder weg. Die Steine, die Felsen liegen weiterhin hier. So wie sie schon hier lagen, als Ritter mit Lanzen aufeinander losgingen, so wie sie hier lagen, als Seeräuber die Meere unsicher machten, so wie sie hier lagen und schliefen und träumten, als das Nibelungenlied geschrieben wurde, so wie sie hier lagen, als die Völkerwanderung Europa auf den Kopf stellte. Herr Stein, Karl der Große ist gestern gekrönt worden. Wer?
    Diese Felsen, diese Steine: Sie sitzen hier, sie schlafen hier, sie schauen hinab auf die Welt unter sich und lassen Schnee auf sich fallen und zwinkern einander alle paar tausend Jahre zu.
     
    Jonas stieg auf, stieg auf, stieg auf. Sein Husten marterte ihn, die Rippe war nichts als eine brüllende Wunde, ein Teil seines Körpers, der sich gegen ihn gewandt hatte, aber am schlimmsten empfand er die Erschöpfung, diese totale Erschöpfung, die letzte Station vor der Hilflosigkeit. Und die psychische Belastung, wenn er ein Ziel anvisierte und nach einiger Zeit feststellen musste, dass es viel weiter entfernt war als gedacht. Entfernungen waren hier nicht mehr, was sie an anderen Orten waren. Ihm war, als bewege er sich durch eine Märchenwelt, in der die Naturgesetze allmählich ihre Gültigkeit verloren und in der nahezu alles geschehen konnte.
     
    Es war kalt. Es war so kalt. Nicht einmal in der Antarktis hatte er so gefroren. Der Wind peitschte in gnadenlosen Böen gegen die Wand, und Jonas spürte, wie ernst die Lage war, wie leicht nun ein Fehler den Tod bedeuten konnte. Alles um ihn war Gefahr, Menschen hatten hier keine Existenzberechtigung, sie durften nur auf einen Passierschein hoffen, auf ein Visum mit äußerst kurzer Rechtskraft.
    Er stieg und stieg, und immer wenn er nach oben schaute, war da nichts als Wand. Die Wand, das Klettern. Das Klettern, die Wand. Andere Menschen um ihn, die er kaum wahrnahm. Wind. Was für ein schrecklicher, unabweisbarer Wind.
    Er fühlte seine Fingerspitzen und seine Zehen nicht mehr. Der Schmerz beim Husten drückte ihm Tränen aus den Augen, die sofort vereisten. Kommunikation mit Vorder- und Hintermann war auf Handzeichen beschränkt, selbst ohne Maske hätte man bei diesem Wind kein Wort verstanden. Das war wahrlich eine Todeszone.
    Hadan, eigentlich könntest du uns wieder runterschicken, hörte er sich denken.
    Aber er kletterte weiter.
     
    Als er auf dem Südsattel stand, konnte er kaum glauben, dass er es geschafft hatte. Erleichtert oder gar glücklich fühlte er sich jedoch nicht.
    Vor ihm lag eine einschüchternd kahle Fläche, auf der Zelte in einem Sturm flatterten, der seine Beklemmung noch steigerte. Er beobachtete, wie sich kleine Sherpas an ihren Behausungen festkrallten, um diese auf dem Boden zu halten, und wie auch die stärksten vom Wind umgeworfen wurden. Er selbst taumelte hin und her und war weit davon entfernt, auch nur zwei Sekunden gerade zu stehen.
    Er musste lachen. Das ist völlig verrückt, dachte er. Das ist völlig unmöglich.
    Ihm kam der unangenehme Gedanke, Hadan hätte schon lange den Befehl zur Umkehr erteilt, Gyalzen und Alex hätten den Funkspruch im Toben des Windes bloß nicht gehört.
    Er ließ den Blick noch einmal über den Sattel schweifen. Weggeworfene Sauerstoffflaschen, Felsbrocken, Steine. Menschen, die umherliefen. Weiter hinten: Menschen, die nicht umherliefen. Die sich nicht rührten.
    Wenn es einen Ort gibt, an dem Menschen zwangsläufig sterben, dann ist es dieser hier, dachte er. Selbst wenn ihre Körper überleben könnten, ihr

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