Das größere Wunder: Roman
am Everest, nicht wahr?«
Jonas nickte. »Ich fühle mich auch dementsprechend.«
Hank winkte ab. »Das vergeht. Ich weiß das, denn ich bin zum zwölften Mal hier. Ich habe es niemals ganz nach oben geschafft, und wenn es heuer wieder nicht klappt, werde ich es nächstes Jahr ein dreizehntes Mal probieren. Aber dass ich ein miserabler Bergsteiger und ein alter Knacker bin, bedeutet nicht, ich hätte den Neulingen nichts zu sagen. Du siehst zwar aus, als könntest du diesen Berg ohne Pause hochlaufen, aber vielleicht willst du trotzdem irgendetwas von mir wissen. Hadan sagt einem ja nicht alles. Er kann sich nicht in jemanden hineinversetzen, der noch nie an diesem Ort war, für ihn ist das alles Routine, alles Plan und nochmals Plan.«
»Tut mir leid, aber fürs erste reicht meine Vorstellung nicht weiter als bis zur Toilette.«
»Sehr verständlich. Doch wie gesagt, das wird besser. Und wenn du etwas brauchst oder etwas wissen willst, zu mir kannst du immer kommen.«
»Das ist sehr nett, vielen Dank.«
Hank stand auf.
»Dann lasse ich dich lieber weiterlesen. Ich kenne solche Zustände ja nur zu gut. Man soll den Patienten da besser nicht belästigen, der will seine Ruhe. Also – bis später. Der Tee schmeckt übrigens heiß am besten.«
Jonas nickte ihm zu und nahm sein Buch wieder von dem Holztischchen, das neben ihm auf dem steinigen Boden stand. Er musste an die in Not geratenen Franzosen denken. Das Wetter weiter oben wirkte nicht so dramatisch. Vielleicht ging alles gut.
Lange hatte er noch nicht in sein Buch gestarrt, als Hadan vorbeikam und sich ungefragt auf dem freien Stuhl niederließ.
»Du siehst gut aus. Okay, das war gelogen. Du siehst besser aus. Fühlst du dich auch so?«
»Grandios«, sagte Jonas.
»Unser Akklimatisationsplan sieht vor, dass wir morgen einen gemütlichen Spaziergang durch den Khumbu hoch zu Lager 1 unternehmen. Glaubst du, du kannst dabei sein?«
»Aus meiner Sicht spricht nichts dagegen.«
»Großartig. Dann erkläre ich dir mal, wie die Sache funktioniert. Wichtig ist: Jeder geht sein eigenes Tempo. Wenn dir einer von unserem Team davonläuft, lass ihn ziehen, auch wenn ihr euch gerade noch so nett über Cindy Crawford oder die Mondlandung unterhalten habt, denn das hier ist kein Wettrennen. Und wenn jemand zurückbleibt, lass ihn hinter dir. Sollte er Probleme haben, wird sich jemand anderer um ihn kümmern. Du gehst deinen Rhythmus. Aber natürlich bewegst du dich so schnell, wie dieser es zulässt, du trödelst nicht rum. Sobald die Sonne am Vormittag in den Eisbruch scheint, schmilzt so einiges, und ich will nicht, dass einer von uns unter einem Sérac ein Nickerchen hält, wenn der zusammenkracht. So ein Ungetüm ist hoch wie ein Haus, und was mit jemandem passiert, der darunter landet, kannst du dir ausmalen. Wir haben es ja bei den Sherpas gesehen. Der eine von denen hinterlässt fünf Kinder, wir müssen uns da noch was einfallen lassen.«
»Immer diese unpräzisen Vergleiche«, sagte Jonas. »Hoch wie ein Haus. Was für ein Haus? Eine Jurte? Ein Wolkenkratzer?«
»Helen hat mir nicht zuviel versprochen. Sie sagte, du seiest, nun ja, besonders.«
»Ich kann mir in etwa den Ton vorstellen, in dem sie es gesagt hat.«
Hadan fletschte die Zähne.
»Geht mich ja nichts an, aber wie lang wart ihr zusammen?« fragte er.
»Behauptet sie, wir seien zusammengewesen?«
»Ich hatte sie so verstanden.«
»Komisch, ich eigentlich nicht.«
Hadan schaukelte auf seinem Klappstuhl, als wolle er jeden Moment nach hinten kippen, und reckte seine gewaltige Nase nach oben. Nach einer Weile nickte er.
»Schön. Hast du Höhenangst?«
»Wäre ich dann hier?«
»Muss nichts heißen«, sagte Hadan und machte sich daran, seine Sonnenbrille zu reinigen. »Hier hat man schon alles gesehen. Das Problem sind die Spalten. Einige davon sind so tief, dass man Häuser darin versenken könnte, pardon, Hochhäuser, dreizehn bis fünfzehn Stockwerke, keine Antenne. Du überwindest sie, indem du über eine wackelige Leiter stapfst. Das ist die Situation, mit der im Khumbu immer wieder Menschen zu kämpfen haben, die jeden Gedanken an Höhenangst zuvor von sich gewiesen hätten.«
»Verstehe. Ich glaube nicht, dass mir das etwas ausmacht.«
»Gut. Wir gehen sehr früh los. Padang und Pemba werden alle wecken. Versuch früh zu schlafen.«
»Werde mir Mühe geben.«
Hadan setzte die Brille wieder auf, erhob sich und blickte eine Weile auf Jonas herab, der sitzen geblieben war und
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