Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic

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Puja aufgebrochen, die Sherpas hätten ihr Unglück vorausgesehen. Sie war nicht die einzige, die einen Xi-Stein um den Hals trug, ihrer hatte gleich vier Augen, von denen jedes für ein Leben stand, und war garantiert ein Imitat. Überhaupt wimmelte es ringsum von Amuletten, Hasenpfoten, Endlosknoten und Darumas.
    Jonas hielt sich im Hintergrund und spielte in seiner Anoraktasche mit einer Knopfbatterie, von der er nicht wusste, wie um alles in der Welt sie dorthin gelangt war. Die Gebetsfahnen, die im Wind knatterten, gefielen ihm in ihrer Farbenpracht, und ebenso der Geruch von Reis und Samen, die im Feuer prasselten, so wie der helle Klang der Glocke, die der Gehilfe des Mönches schlug, und die Gesänge, deren Inhalt er im Gegensatz zu den meisten Umstehenden verstand. Dafür irritierten ihn die entrückten, ernsten Gesichter mancher Westler, obwohl er mit diesem Anblick längst vertraut war, denn überall, wo Menschen aus verschiedenen Erdteilen zusammenkamen, gab es einige, die eine fremde Kultur bewunderten, weil sie ein paar nette Dinge über sie gehört hatten.
    Er schneuzte sich leise in ein Taschentuch. Er schaute auf seine Schuhe. Er beobachtete eine Lawine, die mit heiserem Grollen von einer Bergflanke abging, spielte mit seiner Batterie und träumte sich in eine andere Welt.

8

    Es vergingen einige Tage, an die Jonas kaum Erinnerungen blieben. Werner erzählte ihm später, das Fieberthermometer, das sie ihm stündlich in den Mund steckten, hätte tagelang nicht unter 40 Grad angezeigt, und alles, was Jonas von dieser Zeit im Gedächtnis blieb, waren wirre Phantasien. Einmal sah er niedliche kleine Giraffen durchs Zimmer laufen, einmal sprach er mit jemandem, der sein Vater war und zugleich das Element Wasserstoff, einmal befand er sich in den Bergen, es war eiskalt, er hatte sich verirrt, er breitete die Arme aus und segelte davon wie ein Vogel, und mit jedem Flügelschlag wurde ihm wärmer. Dazwischen versank er in Phasen von tiefem Schlaf, aus dem er schweißgebadet mit klarem Verstand erwachte.
    Neben ihm in seinem Bett lag Mike, der ihn von hinten umarmt hielt. Vor sich sah Jonas die besorgten Gesichter von Werner und Zach.
    »Ich war gerade ein Pinguin«, sagte Jonas, »aber warum, das weiß ich nicht.«
    Werner und Zach wechselten einen Blick.
    »Gewöhn dich bloß nicht dran«, sagte Zach.
    »Bestimmt nicht.« Jonas drehte sich auf die Seite, wischte dem schlafenden Mike Spucke aus dem Mundwinkel und schloss die Augen. »Vollkommen uninteressante Existenz.«
    »Sind ziemlich naive Wesen«, hörte er Werner sagen. »Die ersten Expeditionen zum Südpol berichteten, die Tiere hätten sich geradezu in Position gestellt, um sich der Reihe nach erschießen zu lassen. Wie man so ein Geschöpf töten kann!«
    »Wenn du Hunger hast, kannst das auch du«, sagte Zach.
    »Sicher nicht! Nicht mal, wenn ich vor Hunger sterbe! Ich erschieße doch keine Pinguine!«
    »Wetten, du würdest? Du hast ja keine Ahnung, was Hunger bedeutet, Kleiner. Was der aus Menschen macht. Alles schon dagewesen. Du würdest einem Huhn mit bloßen Händen den Hals umdrehen und es roh essen.«
    »Das würde ich ganz sicher nicht tun! Ein Mensch verliert nicht zwangsläufig seine Überzeugungen, nur weil sein Magen knurrt!«
    »Oh, ein Mensch! Der Mensch! Ach! Der tut noch ganz andere Sachen aus viel nichtigerem Anlass, der Mensch! Wenn du Hunger hast, tötest du. Wenn du ein paar Monate allein in den Bergen bist, weißt du, was du da machst? Da fickst du ein Schaf, wenn du eines hast!«
    »Aha? Na du musst es ja wissen! Warst du oft in den …«
    »Würdet ihr zwei euch gefälligst über das Wetter unterhalten?« rief Jonas schwach.

    Bis er vollständig genesen war, vergingen drei Wochen. In der ersten Woche war Mike nicht aus Jonas’ Bett zu vertreiben, er aß und redete kaum, er lag nur da und schaute seinen Bruder an. Er war bockig, einmal warf er eine Teetasse nach Sascha, als der mit ihm im Garten Ball spielen wollte. Stundenlang streichelte ihm Jonas den Kopf, um ihm zu zeigen, dass nun alles gut war. Doch erst als Jonas aufzustehen und am Tisch zu essen begann, beruhigte sich Mike und schlief schließlich auch wieder allein in seinem Zimmer.
    Niemand verlor ein Wort über das Geschehene, keiner der Besucher sprach Jonas darauf an, weder Hohenwarter, der sich jeden Nachmittag auf die Bettkante setzte, um Jonas Lateinvokabeln und die Herrschaftsfolge der römischen Kaiser abzufragen, noch irgendjemand von den