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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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sich das Gesicht mit Sonnenschutz eincremte.
    »Und jetzt das Wichtigste. Ich habe es schon mehrmals gesagt und werde es jetzt nicht zum letzten Mal sagen. Dort oben will ich mit dir niemals diskutieren müssen. Was immer ich anordne, wirst du befolgen. Wenn ich sage, du gehst runter, dann gehst du runter. Wenn ich sage, du schläfst, dann schläfst du, wenn ich sage, du pisst, dann pisst du, wenn ich sage, du kratzt dich am Ohr, dann kratzt du dich am Ohr. Konditioniere dich darauf: Hadan? Jawohl, Sir! Wie Sie befehlen, Sir! Ich will mich mit dir nicht rumärgern müssen. Da oben ist kein Spielraum für Fehler, und wenn einer aus der Reihe tanzt und sein eigenes Süppchen kocht – und nach dem, was ich über dich weiß, bist du so ein Kandidat –, kann er andere mitreißen. Ich habe noch nie einen Kunden verloren, auf meiner Rechnung stehen nach sieben Jahren nur einige Finger und Zehen und ja, eine halbe Nase und ein Ohrläppchen. Das ist eine famose Bilanz, die ich mir nicht kaputtmachen lassen werde.«
    »Ich werde gehorsam sein«, sagte Jonas.
    »Wieso glaube ich dir nicht?«
    Neben ihnen tauchte Todd Brooks auf, der Leiter der Greenpeace-Expedition, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, Tonnen von Müll vom Berg zu schaffen und die Welt auf die Verschmutzung aufmerksam zu machen, die der Massentourismus am Everest anrichtete. Er fluchte in sein Funkgerät.
    »Hey Todd, redest du mit deiner Frau?« rief ihm Hadan zu.
    Brooks stutzte und blieb stehen. »Ach, du bist das.«
    Er trat zu ihnen und schüttelte beiden die Hand. »Hast du deinen Funk nicht an?«
    »Liegt im Zelt«, sagte Hadan. »Man muss delegieren können.«
    »Irgendwo knapp unter Lager 4 sind die Franzosen aufgetaucht, noch dazu lebend. Wie die Dinge stehen, sollen einige Expeditionen, die bereits Vorräte so hoch oben haben, ein paar Flaschen Sauerstoff –«
    »Marc ist am Leben?« unterbrach ihn Hadan. »War er es, der –«
    »Habe vor zehn Minuten mit ihm gesprochen. Ihm geht es soweit gut. Aber sie brauchen Sauerstoff, und kein Team will seinen abgeben, jeder redet sich raus.«
    »Diese Säcke. Und Sherpas hat das Team auch keine, oder?«
    »Keine eigenen, aber Marc sagte, es seien jetzt welche bei ihnen.«
    »Wir haben noch keinen Sauerstoff so weit oben«, sagte Hadan. »Ist alles in Lager 2, und dort sitzt nur Gyalzen. Bringt nicht viel, den allein hochzuschicken, aber ich mach’s natürlich.«
    »Bei mir ist es gerade umgekehrt! Ich habe Leute da oben, aber noch keinen Sauerstoff. Meine Sherpas könnten deine Flaschen hochtragen.«
    »Okay, das klingt vernünftig. Ich gebe Gyalzen sofort Bescheid.«
    Brooks lief weiter, und Hadan machte sich auf den Weg zum Essenszelt. Auf halbem Weg machte er kehrt.
    »Wie viele Sprachen sprichst du eigentlich?« fragte er Jonas.
    »Lass mich nachdenken … Deutsch, Englisch, Russisch, Italienisch und ein wenig Französisch, dazu noch ein paar Brocken Japanisch, Norwegisch, Schwedisch, aber nicht der Rede wert. Du weißt schon, Die Rechnung bitte, Kaffee mit Milch bitte, Ihre Telefonnummer bitte, vielen Dank für die Einladung …«
    »Wieso verstehst du verdammt noch einmal dann jeden hier?«
    »Ich verstehe jeden hier?«
    »Stell dich nicht dumm! Ich habe das beobachtet! Du verstehst den Finnen, du verstehst den Schweden, du verstehst den Portugiesen und die Spanierin, du redest mit den Russen, dem Holländer, dem Ägypter, sogar mit den Taiwanesen und den Sherpas! Kannst du mir das erklären?«
    »Nein«, sagte Jonas, »das kann ich dir nicht erklären.«
    »So. Das kann er also nicht erklären.« Hadan rümpfte die Nase. »Das kannst du nicht erklären, wie?«
    »Leider nein.«
    Der Expeditionsleiter musterte ihn. Jonas wandte den Blick nicht ab. Schließlich lachte Hadan, klopfte ihm auf die Schulter und lief ohne ein weiteres Wort zum Essenszelt.
     
    Am Nachmittag, gerade als die Sonne zwischen dichten grauen Wolken verschwand, erschien im Lager der Mönch aus dem Kloster Tengboche, der die traditionelle Puja für Hadans und das britisch-irische Team zelebrieren sollte.
    Keiner fehlte, denn keiner wollte es riskieren, die Götter zu verstimmen. Auch Jonas wohnte der Zeremonie bei, jedoch nur, um die abergläubischen Teammitglieder nicht zu irritieren, die womöglich nicht mit jemandem zusammen klettern wollten, der auf den Schutz der Götter verzichtete.
    Die blonde Bankerin mit dem Nagellacktick war in seiner Nähe gestanden, als sie ihrem hageren Begleiter zuraunte, die Franzosen seien ohne

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