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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Staatskosten verpflegt worden ist und danach durch die Welt marschiert, als sei nichts gewesen, ihr Nachwuchs jedoch mit vierzig noch ins Bett pinkelt, kistenweise Tabletten aus der Apotheke trägt und sich die Nägel bis an die Wurzel abkaut.«
    Jonas band sich seine Schuhbänder neu. Aus Sokras Kehle ertönte nunmehr ein einziges, gleichförmiges Gebrüll. Ungefähr so hatte sich Jonas bei der Lektüre von Indianergeschichten die Qualen eines Mannes vorgestellt, der am Marterpfahl hing.
    »Du schweigst. Du denkst anders?«
    »Ich bin nicht sicher«, sagte Jonas.
    »Was ist denn deiner Ansicht nach eine angemessene Bestrafung für einen wie den da?«
    »Das ist ja die Frage. Für mich persönlich? Oder was ich allgemein für richtig halte?«
    »Was meinst du damit?«
    »Entweder du ziehst ihm zwei Zähne, so wie er mir. Oder …«
    »Ja?«
    »Oder du bringst ihn gleich um.«
    »Ihn umbringen? Das findest du angemessen?«
    »Ich schon«, sagte Jonas. »Deswegen ist es gut, dass diese Entscheidungen nicht von Opfern gefällt werden, sondern von unparteiischen Gerichten. Und daher kann ich dir in dem, was du zuvor gesagt hast, nicht ganz zustimmen. Obwohl ich auch keine bessere Lösung weiß. Opfer werden immer Opfer bleiben. Egal, womit man sie entschädigt.«
    »Du bist ja ein vorbildlicher Bürger«, sagte Picco. »Das muss sich ändern. Und jetzt komm mit.«
    Er steuerte auf die Stelle zu, wo der Zahnarzt geschunden wurde. Jonas folgte ihm. Sein Herz klopfte heftig, und er fühlte bei jedem Schritt wachsenden Widerwillen gegen die Brutalität, deren Zeuge er wurde.
    »Stell dich vor ihn«, sagte Picco. »Schau ihn an. Er soll wissen, wodurch er sich das verdient hat. Und du da, du Lump, schau den Jungen an, los!«
    Später erinnerte sich Jonas nur an das grotesk angeschwollene Gesicht und die Verzweiflung in den Augen des plötzlich so kleinen Mannes, der in kurioser Verrenkung vor ihm lag und dessen Arme und Beine offenbar schon mehrfach gebrochen waren. Jonas hätte ihm gern zu verstehen gegeben, dass dies hier nicht in seinem Namen geschah, dass sie hier beide Zuschauer waren, jeder auf seine Weise, doch er schwieg, natürlich schwieg er, er sah Sokra in die Augen und schwieg, er folgte Picco zum Wagen und schwieg. In seiner Erinnerung blieben die Schreie, der blutüberströmte Arztkittel, Sokras hilfloser Blick. Und ein Gefühl von Leere, entstanden aus der Erkenntnis, wie sehr Gut und Böse von subjektiven Faktoren abhängig waren, und davon, auf welcher Seite eines Konflikts man sich befand.
     
    »Glaubst du, sie haben ihn umgebracht?« fragte Werner.
    »Antworten werden überschätzt, habe ich gehört«, sagte Jonas. »Außerdem ist die Sache schon entsetzlich genug.«
    Der ganze Garten dampfte, so heftig war der Regen, der draußen niederging. Gruber, der sie zur Burg hochgebracht hatte, weigerte sich dennoch, hereinzukommen, weil er ihren Gestank nicht aushielt, und wartete lieber im Auto. Mike sprang nackt durch das Gras, eine Vogelfeder im Haar, die er mit Klebeband befestigt hatte, und spielte Indianer.
    »Na ja, aber so etwas war zu erwarten«, sagte Werner. »Du hättest den Boss in der Zeit sehen sollen, als du krank warst. Ich kenne ihn. Wenn er über einen Menschen auf eine bestimmte Art redet … Da reichen oft Blicke.«
    »Weißt du denn von jemandem konkret, dass …«
    »So konkret, dass ich es gesehen hätte, meinst du? Zum Glück nicht. Aber das kann man sich zusammenreimen. Zum Beispiel der Kerl, der dich ins Krankenhaus gebracht hat …«
    »Schon gut, lass uns von etwas anderem reden.«
    Werner stellte den Stürmer seines Tipp-Kicks in Position und drückte den Knopf auf dessen Kopf. Jonas wehrte ab.
    »Wir sind umgeben von Mördern«, sagte Werner. »Seltsame Kindheit, die wir da haben.«
    »Ich finde das auch seltsam.«
    »Aber es hat Vorteile. Vorteile wie Nachteile.«
    »Ich weiß ja nicht, wie sich das auf unsere Entwicklung auswirkt«, sagte Jonas. »Wir sind jetzt in der Pubertät, das ist eine prägende Zeit. Wenn man da mit solchen Blutrünstigkeiten konfrontiert wird, ist das sicher nicht gut. Ich will keiner von denen werden, die jede Woche auf einer Couch liegen und ihrem Psychiater Horrorgeschichten aus ihrer Kindheit erzählen.«
    »Du hast recht. Aber wir haben ja unseren Verstand. Wir wissen das alles und können daher besser mit diesen Prägungen umgehen.«
    »Wenn wir nicht gerade davorstehen«, sagte Jonas.
    »Apropos, wie steht es überhaupt?«
    »Keine Ahnung. 5:2

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