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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Kopfhörer auf und schaltete den iPod an.

10
     
    Diese Zeit roch nach Bäumen. Nach Wald und nach dem Kaugummi, den ihm Regina heimlich kaufte. Wald und Kaugummi, diesen Duft hatte er noch Jahre später in der Nase, wenn er an diese Wochen und Monate dachte, in denen er das Gefühl hatte, dass sich die Dinge kaum merklich zu verändern begannen.
    Vor dem Sommer hatte sich Zach überreden lassen, den Jungen zu zeigen, wie man einen primitiven Sprengsatz herstellte. Daran erinnerte sich Jonas, als ihm einige Wochen nach dem Vorfall mit dem Zahnarzt zu Ohren kam, ein benachbarter Bauer halte seine Schweine unter untragbaren Umständen. Die armen Tiere litten auf engstem Raum, verletzten sich gegenseitig und wurden auf grausame Weise geschlachtet, erzählte ihm Harry, selbst Bauer, Schweinezüchter und Mitglied des Tierschutzvereins.
    Jonas’ Plan sah nun vor, die Tür des Schweinestalls zu sprengen und einigen, wenn nicht den meisten Tieren die Freiheit zu schenken. Beim Bau der Bombe musste sich jedoch irgendwo ein Rechenfehler eingeschlichen haben, denn statt der Tür flog der halbe Schweinestall mitsamt dem am Fenster befestigten Bekennermanifest in die Luft, für das die Jungen mehr Zeit verwendet hatten als für das Basteln der Bombe, und die Überreste der Tiere hingen ringsum in den Bäumen.
    »Ich will verdammt sein«, sagte Werner mit weit aufgerissenen Augen.
    Fassungslos starrte Jonas auf die Ruine, über der dichter Rauch hing.
    »Was habe ich angerichtet?« stammelte Werner.
    »Das haben wir beide angerichtet.«
    »Aber die Mengen habe ich berechnet! Das ist meine Schuld!«
    »Wir sollten schnell von hier verschwinden«, sagte Jonas.
    »Die armen Tiere! Ich habe sie alle umgebracht!«
    »Komm schon!« Jonas zog Werner am Arm. »Wir müssen hier weg!«
    Aus dem Hauptgebäude des Hofs nebenan ertönten zornige Rufe. Irgendwo ging eine Tür auf und krachte gegen eine Mauer. Jonas zerrte den widerstrebenden Werner in den Wald, wo sie in Richtung ihrer Räder losstürmten, die sie auf einer nahen Lichtung abgestellt hatten.
    »Was machen wir jetzt?« jammerte Werner. »Was mache ich jetzt? Was soll jetzt werden?«
    »Na nichts«, sagte Jonas. »Es ist geschehen und nicht zu ändern. Komm ja nicht auf den Gedanken, es jemandem zu erzählen! Wir wissen von nichts, wir haben keine Ahnung, wir sind dumm und stumm. Los, schneller, wir müssen uns von irgendjemandem sehen lassen, als Alibi!«
    Minuten danach gelangten sie zur Piste. Erst fuhren sie nebeneinander, bis Jonas an der Stelle beschleunigte, an der er normalerweise bremste.
    Er hörte noch den entsetzten Ruf Werners, dann hörte er nichts mehr außer dem Fahrtwind. Das Blut rauschte ihm in den Ohren, und er vergaß fast zu atmen. Der neue Tachometer, den ihm Zach geschenkt hatte, stand binnen Sekunden auf 80 Stundenkilometern, auf 90, 100, das war die Maximalanzeige, und doch fühlte Jonas, dass er immer noch schneller und schneller wurde.
    Gleich bist du tot, dachte er.
    Es war ein Moment, über den er später oft nachdachte. Was er dabei gefühlt hatte, als er merkte, wie dünn die Wand zwischen Leben und Tod war, als er in diesen Sekunden, die ihm vorkamen wie Minuten, mit erschütternder Klarheit erkannte, dass alle Sicherheit Illusion war. Eine Bewegung nach rechts, eine nach links, alles wäre vorbei. Und ihm drängte sich der Gedanke auf, dass es in Wahrheit immer so war, in jedem Augenblick, dass sie alle an einem unsichtbaren Abgrund standen, in den Menschen stürzten und von einem Moment auf den anderen verschwanden, bloß waren es stets die anderen, es betraf niemals einen selbst. Bis man stürzte. Bis man fiel und staunte, dass es doch passierte, sogar mir, sogar mir kann alles zustoßen, ich bin nicht unverwundbar, ich bin nicht unsterblich, auch ich werde eingehen in die große Wolke, aus der ich gekommen bin.
    Ich lebe. Das bedeutet auch: Ich sterbe. Der intime Moment wird kommen, in dem ich weiß: Jetzt ist es soweit. So ist das also.
    »Hast du den Verstand verloren?« schrie Werner Jonas an, der am Ende der Piste auf ihn gewartet hatte. »Bist du lebensmüde?«
    »Nein«, sagte Jonas, »nur neugierig.«
     
    Ein paar Wochen danach rief Picco die Jungen zu sich in sein Arbeitszimmer.
    Jonas mochte es nicht besonders, es war dunkel, in den großen Ledersesseln versank man, die Bücher in den riesigen Regalen rochen muffig, und das Gemälde, das hinter dem Schreibtisch an der Wand hing, machte ihm Angst. Es zeigte einen Mann auf einem

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