Das größere Wunder: Roman
Hausbewohnern. Nur der Arzt erklärte ihm, er habe sich wohl eine Infektion zugezogen, die mit der Zahnextraktion zusammenhänge, aber das sei nun alles überstanden.
Am Ende der dritten Woche begann für Jonas wieder der reguläre Unterricht. Er durfte dabei liegen, Werner saß am Tisch, und die Lehrer kamen ins Zimmer und beschwerten sich über den Gestank.
»Wir haben eine Wette abgeschlossen«, sagte Werner.
»Wir wollen sehen, wer von uns beiden es länger ohne Dusche aushält«, erklärte Jonas und schlug seine Arbeitsmappe auf.
»Das ist doch hoffentlich nicht euer Ernst!« sagte Claudia, die junge Naturwissenschaftslehrerin, macht ihr wirklich so eine blöde Wette?«
»So blöd ist sie gar nicht«, sagte Werner. »Wir werden viel über Willenskraft erfahren.«
»So kann man es auch nennen. Ihr seid widerwärtig!«
»Wissen wir«, sagte Werner. »Wir wollen herausfinden, wer widerwärtiger ist.«
»Das bist du«, sagte Jonas, »ich halte es aber trotzdem länger aus.«
»Großer Gott«, sagte Claudia und riss das Fenster auf.
Werner zuckte die Schultern. »Ich rate Ihnen mitzumachen. Dann ist es nicht so schlimm.«
»Übermorgen bekomme ich von euch ein Referat über apokrine Drüsen, axiliäre Hyperhidrose, das Corynebacterium jeikeium und Fettsäuren, und ich bestehe darauf, dass es ein rein theoretischer Vortrag wird. Ihr könnt gleich die Zeit nützen und in die Bibliothek gehen, denn ich verschwinde jetzt.«
»Die hält aber nicht viel aus«, staunte Werner mit einem Blick auf die offene Tür, wo die Lehrerin gerade noch gestanden hatte.
Zwei Tage darauf fühlte sich Jonas so weit wiederhergestellt, dass er vor dem Haus einige Runden drehte. Gruber drohte ihm mit dem Gartenschlauch, sollte er ihm zu nahe kommen.
»Das bringt nichts«, sagte Jonas. »Dem Corynebacterium jeikeium rücken Sie nur mit Natriumsalzen von Fettsäuren zu Leibe.«
»Du mich auch«, sagte Gruber.
Jonas wollte ihn weiter triezen, doch er hörte jemanden seinen Namen rufen. Er drehte sich um und war verblüfft, als er Picco am Steuer des Mercedes sitzen sah.
»Ärgerst du Gruber schon wieder?«
»Nicht zu sehr. Im Rahmen.«
»Das ist gut. Steig ein.«
Jonas gehorchte.
»Schnall dich an.«
Jonas schloss den Gurt.
»Kannst du überhaupt fahren? Erinnere mich nicht, dich je auf diesem Platz gesehen zu haben.«
Picco schaltete das Radio an und schob eine Johnny-Cash-Kassette ein.
»Ich kann alles, wenn ich will. Ich muss mich nur konzentrieren. Außerdem habe ich solche Autos einmal hergestellt. Da muss ich doch Bescheid wissen.«
»Ich habe starke Zweifel, dass der Chef von Boeing einen Jumbo fliegen kann. Das ist also kein Argument.«
»Du Schlauberger.«
»Hast du mir beigebracht.«
»Ja«, sagte Picco. »Habe ich.«
»Und wohin fahren wir?«
»Jetzt fängst du auch schon so an.«
Picco ließ die Kupplung springen, und der Motor starb ab. Er startete ihn wieder, und nun fuhr der Wagen mit einem heftigen Ruck los.
»Herr im Himmel«, sagte Jonas und fasste nach seinem Haltegriff.
»Wer?«
»Ach, nichts.«
Picco rümpfte die Nase. »Was riecht hier?«
»Oh, nichts.«
An milde Septembernachmittage wie diesen erinnerte sich Jonas noch fünfundzwanzig Jahre danach. Auf den Feldern zu beiden Seiten der Straße lag aufgeschichtetes Heu im weichen braunen Licht der sinkenden Sonne. Traktoren kamen ihnen entgegen, und die Bauern hinter den breiten Lenkrädern zogen ihre Hüte. Picco fuhr so langsam und so nahe am Straßenrand, dass Jonas den Arm aus dem Fenster strecken und mit der Hand durch das hoch stehende Gras wischen konnte. Es roch frisch nach Wiese, es roch kühl und dunkel nach Wald, nur ab und zu streifte seine Nase etwas, das einem Schweinestall entströmt sein musste, und selbst diesen Geruch empfand Jonas nach den Wochen im Bett geradezu als erquickend.
»Hier drin stinkt es mehr als draußen«, schrie Picco gegen den Folsom Prison Blues an.
Die langsame Fahrt schläferte Jonas trotz der lauten Musik ein. Er döste vor sich hin, bis er merkte, dass es plötzlich steil bergab ging.
O nein, dachte er, nicht die Piste.
Und natürlich war sie es. Die Piste, wie sie jene schnurgerade, keine drei Meter breite Straße nannten, die ein solches Gefälle aufwies, dass manche hier mit der Hand an der Handbremse den Berg hinabrollten. Zwei oder drei Kilometer fuhr man geradeaus, teilweise durch Wald, teilweise vorbei an Maisäckern und Weingärten, auf einer Strecke, die Jonas und Werner
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