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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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dabeigehabt hätte, aber vermutlich war auch das Teil der Demonstration.
    Hinaus ging es aus der Ortschaft, den Berg hinauf. Auf einer Anhöhe wartete Zachs Wagen. Picco und der unbekannte Fahrer gaben einander ein Zeichen. Beide fuhren wieder los.
    Sie hielten auf einer Hochebene, von der aus man tief nach Deutschland sehen konnte. Jonas war einmal mit Picco hiergewesen, der ihn dabei auf den Berghof hingewiesen hatte, Hitlers ehemaligen Landsitz, nur ein paar Kilometer entfernt.
    Zach zog den Zahnarzt aus dem Auto. Picco umfasste mit beiden Händen das Lenkrad. Er schmunzelte und sah Jonas prüfend an.
    »Okay«, sagte Jonas und stieg aus.
    Nun erst bemerkte er, dass Sokras Hände gefesselt waren. Der Zahnarzt wurde von Zach gegen einen Felsen gelehnt, wo dieser seinem Gefangenen einige Schläge in den Leib versetzte, sodass Sokra schreiend niedersank. Währenddessen begrüßte der zweite Mann Picco. Sie schüttelten sich die Hand.
    »Das ist mein Enkel«, sagte Picco.
    Der zweite Mann stellte sich in aller Form bei Jonas vor. Er hieß Björn und hatte einen sanften Händedruck. Ein Blick in seine schmalen Hundeaugen genügte Jonas, um zu wissen, dass dieser Mann gewalttätiger war als jeder, dem er bisher begegnet war, doch im Augenblick kümmerte ihn das nicht.
    Wie nebenbei nahm Jonas wahr, wie Zach und Björn auf den schreienden Sokra einprügelten. Picco hatte ihn seinen Enkel genannt. Seinen Enkel! Gewiss, Jonas lebte mit ihnen, als sei er nie woanders gewesen, aber dass der Boss ihn als seinen Enkel bezeichnete, war noch nie vorgekommen. Für eine Minute vergaß er völlig, wo er war und was hier passierte, er stand da und war glücklich. Dann kehrten die Schreie des Zahnarztes in sein Bewusstsein zurück, und er wünschte sich weit fort.
    Picco führte ihn ein paar Schritte beiseite.
    »Das wird später, als ich gerechnet hatte. Ich muss eine Verabredung verschieben, und weit und breit kein Telefon. Zu dumm.«
    »Es sollte tragbare Telefone geben«, sagte Jonas. »Jeder sollte eines haben.«
    »Grauenhafte Vorstellung. Da lasse ich lieber dann und wann eine Verabredung sausen.«
    Er ließ sich auf einem Stein nieder und deutete neben sich. In diesem Moment ertönte ein Schrei, wie ihn Jonas noch nie gehört hatte. Den Blick zu Boden gerichtet, fragte er:
    »Was tun sie mit ihm?«
    »Sie ziehen ihm seine Milchzähne.«
    »Sie ziehen ihm die Zähne?«
    »Alle«, nickte Picco.
    Das Geschrei nahm nicht nur kein Ende, sondern wurde immer lauter. Am liebsten hätte sich Jonas die Ohren zugehalten. Sokra brüllte, schluchzte, schrie von neuem auf, flehte. Jonas wurde schlecht.
    »Ignorier das Gejammer. Merk dir lieber, was du hier siehst. So habe ich es stets gehalten. Wer einen der Meinen verletzt, verletzt mich. Wer mich verletzt, wird zehnfach bestraft. Wer mir eine Ohrfeige gibt, dem schlage ich die Nase ein. Wer mir die Nase bricht, dem spalte ich den Kopf. Wer einem der Meinen noch Schlimmeres antut, auf dem zünde ich eine Atombombe. Was bedeutet Auge um Auge, Zahn um Zahn?«
    »Nicht das, was die meisten glauben. Es bedeutet nicht, dass man Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern dass man es nicht übertreiben soll. Wenn ich durch einen anderen ein Auge verliere, darf ich von ihm nur eines und nicht beide oder gar sein Leben fordern.«
    »Genau das heißt es. Furchtbar, nicht? Ein Beispiel dafür, was für ein Unsinn in der Bibel steht. Man schlägt doppelt, dreifach, hundertfach zurück! Ein Auge gegen beide, ein Zahn gegen alle. So kommt der Nächste nicht mehr so leicht auf die Idee, sich an meinen Augen oder Zähnen zu vergreifen.«
    »Das ist grausam«, sagte Jonas.
    »Ist es vermutlich. Und dient zur Abschreckung. Und zur Befriedigung sogenannter niedriger Gefühle, die so niedrig gar nicht sind, wie etwa dem Wunsch nach Sühne. Die Leute tun heutzutage so, als hätte ein Opfer kein Recht darauf, den Täter angemessen bestraft zu sehen. Eine Frau wird vergewaltigt, und der Mann bekommt sechs Monate auf Bewährung. Ein betrunkener Bauernbursche mäht mit dem BMW seines Vaters frühmorgens nach der Diskothek eine halbe Familie nieder, und die Hinterbliebenen müssen sich neben lächerlichen Schadenersatzprozessen und Rollstuhlelend damit herumschlagen, dass der Amokfahrer das Gefängnis keinen Tag von innen sieht. Irgendein Tier vergreift sich an einem Kind, und seine Eltern wälzen sich jahrelang jede Nacht im Bett herum bei dem Gedanken daran, dass dieser Abschaum ein paar Monate oder Jahre lang auf

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