Das größere Wunder: Roman
Pferd, von dem nicht klar war, ob er aus einer finsteren Hecke kam oder in sie hineinritt. Weder Ross noch Reiter hatte klare Konturen, die Gestalten waren verwischt, halb Pferd und Mensch, halb Hecke, umflossen von ungreifbarer Dunkelheit. Es herrschte eine gespenstische Stimmung auf diesem Bild, denn es gehörte nicht zur Wirklichkeit, es gab nur vor, einen Teil der Wirklichkeit abzubilden. Und dennoch oder vielleicht genau deshalb hatte Jonas das Gefühl, dieses Bild sei wahrhaftiger als jedes andere, das er kannte. Es enthüllte ein großes Geheimnis, das Bedrohliches verhieß.
Das Gespräch, das sie unter dem Reiterbild an jenem Oktobertag führten, blieb Jonas für alle Zeit im Gedächtnis, verschwommen, konfus, verwirrend. Picco musterte die Jungen eine Weile, dann verdrehte er die Augen und öffnete ein Fenster.
Ihr sollt es wissen, ihr seid alt genug, ich habe Krebs, wisst ihr, was das bedeutet. Ist das dein Ernst, ja, das ist mein Ernst, sehe ich wie ein Witzbold aus. Ja, wir wissen, was es bedeutet, aber was bedeutet es in deinem Fall. Es bedeutet Operationen, Chemotherapie, unwägbare Zukunft. Was können wir tun, ihr könnt euch endlich waschen, ihr Idioten. Schaut nicht so, ich bin ein Kämpfer. Jonas, wenn du einverstanden bist, werde ich dich adoptieren. Mich adoptieren? Deine Mutter ist einverstanden. Meine Mutter ist einverstanden? Jawohl. Es gibt ein paar juristische Vorteile für dich, wenn du mein Adoptivsohn bist.
Sie ist einverstanden?
An diesem Tag wurde Jonas vor dem rätselhaften Reiterbild bewusst, dass er das Leben bei Picco immer als vorübergehend betrachtet hatte, als eine Art Internatsaufenthalt, der zu Ende gehen würde, sobald die Dinge zu Hause besser standen. Nun erfuhr er, dieses Zuhause gab es nicht. Dort wartete niemand auf ihn. Nirgendwo auf der Welt wartete jemand auf ihn.
11
Jonas saß vor seinem Zelt in der Sonne und wollte gerade mit seinem Brief an Marie weitermachen, als zwei Reporter auf ihn zukamen und ihn nach einem Interview für eine Dokumentation fragten. Er machte ihnen klar, dass sie nie wieder ihre Kamera auf ihn richten sollten, und jagte sie fort.
Kurz darauf tauchte Sam mit zwei Bechern Tee auf und der Nachricht, die Franzosen seien allesamt in Sicherheit und würden wahrscheinlich in weniger als einer Stunde im Basislager eintreffen. Es war allerdings von schweren Erfrierungen bei mindestens zwei von ihnen die Rede, und einer würde wohl beide Hände verlieren.
»Dass die das überstanden haben, verdanken sie garantiert Marc Boyron«, krächzte Sam. »Ich schätze, weltweit gibt es keine fünf Bergsteiger, die das können, was er in dieser Höhe schafft. Meine Fresse, ich halte diese Halsschmerzen nicht mehr aus.«
»Der war bei ihnen?«
»Warum erschreckt dich das so? Kennst du ihn?«
»Ich habe ihn mal getroffen.«
»Dann kennst du auch die Geschichte von seinem Biwak auf 8200 Metern? Nicht? Das war vor drei Jahren. Er wollte den Gipfel überschreiten, also an der Südseite auf- und im Norden absteigen. Das hätte auch geklappt, hätte sich sein Partner nicht beim Aufstieg den Knöchel verstaucht. Sie drehen um, aber nun geht alles sehr langsam, und sie geraten in einen fürchterlichen Sturm. Als der sich endlich ein wenig legt, ist es tiefe Nacht, und Boyrons Kumpel hat rasselnden Husten und kann sich nicht mehr bewegen. Völlig unansprechbar. Boyron kapiert sofort, der Kerl hat ein Lungenödem und ist geliefert, wenn sie nicht Dampf machen und absteigen. Aber wie gehst du mit einem Bewusstlosen einen Berg runter, noch dazu nachts? Na, der Sturm wird wieder stärker, also braucht er sich darüber vorerst keine Gedanken zu machen.
Und der Teufel kriegt natürlich Junge. Der Sturm hört nicht auf, die ganze Nacht nicht, den ganzen nächsten Tag nicht. Es wird wieder dunkel. Boyrons Kumpel ist irgendwann tot, und Boyron muss zum zweiten Mal in der Todeszone übernachten, ohne Zelt, ohne Schutz vor Wind und Kälte, auf acht-zwei, dehydriert und immer wieder von Halluzinationen heimgesucht.
Am Nachmittag darauf lässt der Sturm ein wenig nach, und in diesem Zeitfenster schafft er es runter zu Lager 4. Hat ihn nicht mal eine Fingerspitze gekostet. Es gibt Menschen, die dort oben einfach stärker sind als andere.«
»Und was war mit seinem Partner?«
»Der sitzt immer noch da oben.«
»Wie, den hat keiner runtergeholt?«
»Sagt dir der Begriff Leichengasse etwas? Nicht? Nun, da oben gibt es einen Bereich, da glaubst du, du bist in einem
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