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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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für mich, glaube ich.«
    »Und zweitens haben wir einander«, sagte Werner. »Wir können miteinander reden. Über etwas reden hilft, es zu verarbeiten.«
    »Ich bin nicht so der Redner.«
    »Ich ja auch nicht. Aber es wäre vielleicht wichtig.«
    »Kann sein. Ich melde mich, wenn es was zu reden gibt. Einstweilen denke ich einfach nicht mehr daran.«
    Jonas baute seinen Stürmer knapp außerhalb von Werners Strafraum auf. Die Kugel landete genau in der Kreuzecke.
    Werner setzte die Kugel auf die Mittelauflage, doch anstatt weiterzuspielen, stellte er sich ans Fenster. Jonas folgte ihm. Durch den Regen sahen sie Gruber, der hinter dem Steuer umständlich eine großformatige Zeitung umblätterte.
    »Ich glaube, sie sind allesamt Mörder«, sagte Werner. »Ohne Ausnahme. Hohenwarter. Zach. Der Boss. Gruber. Vielleicht sogar Regina.«
    »Ich glaube auch.«

9
     
    Jonas hatte eine Unzahl Fotografien von Séracs gesehen, den gigantischen Eistürmen, die dem Khumbu-Eisbruch den Charakter einer bedrohlichen Phantasielandschaft verliehen, in der Menschen zu Ameisen wurden, doch während der Stunden, die er hier inzwischen verbracht hatte, erst in frühmorgendlicher Kälte und Dunkelheit, dann bei klarem Sonnenschein und erstaunlicher Hitze, auf schmalen Leitern über sagenhaft tiefe Gletscherspalten balancierend, umgeben von Stille, die nur von Zeit zu Zeit unterbrochen wurde vom Knacken des sich ständig bewegenden Gletschers oder gar dem Lärm eines irgendwo in der Nähe einstürzenden Eisturms, in all diesen Stunden kam Jonas nur selten zu Bewusstsein, dass er sich gerade in dem legendären Gletscherbruch bewegte, der ihn schon als Kind so fasziniert hatte, in diesem Labyrinth aus gähnenden Abgründen und zusammenkrachenden Séracs, mit den von einem Tag auf den anderen verbogenen Leitern, den Temperaturschwankungen und der allgegenwärtigen Todesgefahr. Jonas hatte das Gefühl, etwas Normales und Folgerichtiges zu tun. Hier gehörte er hin, seit langer Zeit, nun war er da, und was geschehen würde, unterlag nur bedingt seiner Kontrolle.
    Einige Zeit ging er neben Hank Williams. Sie redeten über die anderen Teammitglieder und darüber, wer wohl die größten Chancen hatte, es auf den Gipfel zu schaffen.
    »Wieso hast du eigentlich bei Hadan unterschrieben?« fragte Hank.
    »Ich glaube, seine Vergangenheit gab den Ausschlag.«
    »Über die weiß ich nichts. Du meinst, die Berge, die er bestiegen hat?«
    »Über die weiß wiederum ich nichts. Ich finde seinen Lebensweg interessant. Er war Universitätsdozent in den USA und in Japan, und er hatte einen ziemlich guten Job in der Forschung in Aussicht, aber er verliebte sich in eine Bergführerin und entschied, das alles von einem Tag auf den anderen hinter sich zu lassen und dieses Unternehmen zu gründen, mit dem er Leute wie uns auf die Gipfel hoher Berge führt. Außerdem kenne ich Helen ein wenig.«
    »Verstehe.«
    »Und warum du?«
    »Na ja, ich kenne Susan, seine Frau. Und ich habe was für gebrochene Biografien übrig. Und ich habe mal einen Vortrag von ihm gehört, wo er beschrieb, wie er sich auf dem Weg zum Gipfel des K2 mit einem Gefährten unterhielt, der ihn bis ganz nach oben begleitete, obwohl er allein unterwegs war. Die Halluzinationen da oben, unter denen manche Leute wegen des Sauerstoffmangels leiden, sind wirklich spektakulär. Der Vortrag war jedenfalls brillant, und ich wusste, mit dem Mann will ich Berge besteigen.«
     
    Am frühen Vormittag gelangte Jonas zu der Stelle, wo am Tag seiner Ankunft im Basislager die Sherpas verunglückt waren. Wind blies in bunte Gebetsfahnen, auch Blumen waren abgelegt worden. Während sich Jonas fragte, wie um alles in der Welt jemand Blumen hierher gebracht haben mochte, hörte er, wie eine bekannte Stimme hinter ihm seinen Namen rief.
    »Gut machst du das«, sagte Bruce, einer ihrer Bergführer, während er Jonas überholte. »Hab dich eine Weile beobachtet. Du gehst ein gleichmäßiges Tempo, nicht zu langsam, nicht zu schnell. Gefällt mir.«
    »Ob es zu schnell ist, werden wir erst sehen.«
    »Dir geht die Puste schon nicht aus. Siehst du die da oben? Denen geht sie bald aus. Typischer Fehler, die wollen allen zeigen, was sie draufhaben. Halbstarke.«
    Jonas warf nur einen kurzen Blick auf die Gruppe weiter oben, auf die der Bergführer wies, nickte und blickte wieder zum Ort des Unglücks, den der Bergführer nicht erwähnt, vielleicht gar nicht beachtet hatte. Als Bruce außer Sicht war, setzte er seine

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