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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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heimlich für waghalsige Mutproben mit dem Fahrrad nutzten und auf der man ganz bestimmt nicht einem Auto begegnen wollte.
    »Halleluja«, stieß Jonas hervor und krallte sich an den Haltegriff.
    »Woher kommt dieses religiöse Vokabular? Das gefällt mir gar nicht.«
    »Das wollte ich dich schon lange fragen«, sagte Jonas und linste Richtung Tachometer. »Wieso glaubst du nicht an Gott? Hast du mal an ihn geglaubt?«
    »Was ist denn das für eine dumme Frage?«
    »Hör mal, ich darf solche Fragen stellen, ich bin ein Kind!«
    »Nein, du bist kein Kind.«
    »Na was denn sonst?«
    »Irgendetwas anderes. Ruhe jetzt, ich muss mich konzentrieren!«
    »Okay«, sagte Jonas, »ist vielleicht besser so. Aber wonach hältst du Ausschau? Wieso verrenkst du dir dauernd den Hals?«
    Piccos Fuß rutschte vom Bremspedal, und der Wagen schoss den Berg hinab.
    »Heilige Mutter!« rief Jonas.
    Picco stieg hart auf die Bremse, so dass Jonas unsanft im Sicherheitsgurt landete.
     
    Eine Viertelstunde darauf pinkelte Jonas gegen die Ortstafel jener Nachbargemeinde, in der Sokra seine Praxis hatte. Hinter ihm schimpfte Picco aus dem Auto, er solle sich beeilen.
    »Kannst du so etwas nicht vorher erledigen? Oder dich eine Weile zusammennehmen?«
    »Vorher erledigen, wie denn? Du hast mich ja ins Auto gezogen. Und zusammennehmen? Weißt du, wie ungesund das ist?«
    »In eine normale Schule könnte man dich nicht mehr schicken. Deine Mitschüler würden dich umbringen. Wir hätten dich umgebracht.«
    »Das glaube ich nicht«, sagte Jonas und stieg ein. »Gleichaltrigen gegenüber würde ich so tun, als wüsste ich genauso wenig wie sie. Ich kann mich anpassen. Mit dir zum Beispiel …«
    »Sag lieber nicht, was du gerade sagen wolltest.«
    Sie hielten auf einer Anhöhe, von wo sie direkte Sicht auf das Haus des Zahnarztes hatten. Jonas beschlich ein unangenehmes Gefühl.
    »Und was jetzt?«
    »Wir warten.«
    »Und worauf?«
    Picco stieg aus und spazierte umher, die Hände in den Taschen seines modischen, fast schon zu jugendlichen Sakkos. Jonas folgte ihm. Seine Anspannung wuchs mit jeder Sekunde.
    »Was wollen wir hier? Ich würde lieber zurückfahren.«
    Picco stand da, groß, breit, unnahbar. Er warf einen Blick auf seine silberne Taschenuhr. Jonas lehnte sich gegen die Beifahrertür und versuchte, das Haus zu ignorieren. Er wusste, bald würde etwas passieren, und er fragte sich, ob es ihm gefallen würde. Bei der Vorstellung, Sokra noch einmal gegenübertreten zu müssen, wurde ihm übel. Er wollte keine Entschuldigung, er wollte einfach nur vergessen.
    Hackl fuhr an ihnen vorbei, der Postbote ihrer Gemeinde. Jonas konnte ihn nicht ausstehen. Picco grüßte ihn mit einem knappen Winken und rümpfte die Nase.
    »Du hältst von ihm auch nicht viel?« fragte Jonas.
    »Diese Kreatur.«
    Sie warteten fünf Minuten, sie warteten zehn Minuten. Picco wurde sichtlich ungeduldig.
    Jonas suchte in der Wiese nach einem vierblättrigen Kleeblatt. Mit acht oder neun hatte er gelesen, sie brächten Glück. Er war sofort auf die Suche gegangen, und natürlich hatte er innerhalb von dreißig Sekunden eines gefunden. Seither suchte er immer wieder, oft stundenlang, und immer erfolglos.
    »Na also«, sagte Picco.
    Gegenüber fuhr ein Wagen vor. Zwei Männer stiegen aus, einer davon war Zach. Er schaute sich nach allen Seiten um.
    »Was machen die da?« fragte Jonas.
    »Abwarten.«
    Die beiden Männer verschwanden im Haus. Zwei Minuten später kehrten sie zurück, nunmehr zu dritt: Den Zahnarzt zwischen sich eingekeilt, liefen sie zum Auto, nachdem Zach wieder in alle Richtungen gespäht hatte.
    Zach stieg hinter Sokra in den Wagen und setzte sich neben ihn nach hinten, der zweite Mann stieg vorne ein und fuhr los.
    »Ins Auto«, sagte Picco, »wir müssen uns beeilen.«
    Widerstrebend gehorchte Jonas. Eigentlich hatte er Picco bitten wollen, ihn ans Steuer zu lassen, doch daran dachte er nun nicht mehr. Mit flauem Magen saß er neben dem hektisch lenkenden Boss und starrte vor sich auf das Armaturenbrett.
    Gern hätte er gewusst, wohin sie fuhren und was noch bevorstand, aber er wagte nicht zu fragen. Deutlich fühlte er, dass dies eine Sache war, in der Picco, sosehr er Jonas sonst zu offenen Worten ermunterte, keinerlei Einmischung duldete. Jonas hatte dem, was heute geschah, wenn schon nicht stumm, so doch widerspruchslos beizuwohnen. Dies war eine Demonstration.
    Er wischte sich die schweißnassen Hände an der Hose ab. Wenn er wenigstens Werner

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