Das größere Wunder: Roman
verdammten Wachsfigurenkabinett. Überall Tote. Sitzen, liegen, lehnen an Felsen, der eine hier, der andere dort, wo sie eben gestorben sind. Ein fürchterlicher Anblick.«
»Das klingt allerdings fürchterlich.«
Sam lachte. »Einige haben mittlerweile sogar Namen. Es gibt den Winkenden Mann, weil sein erfrorener Arm so vom Körper absteht, als würde er dir winken. Eine alte Oma sitzt oben wie zu Hause vor dem Fernseher, es fehlen nur Strickzeug und Schoßkatze, der Wind fegt durch ihr graues Haar, das ist Großmutter. Einer liegt auf der Seite und zeigt dir den Mittelfinger, das ist der Rüpel. Wie in einem Scheiß-Horrorfilm.«
»Bekommt man die nicht von dort runter?« fragte Jonas.
»Keine Chance. Aus dieser Höhe eine Leiche abzutransportieren bringt bloß die Träger in Gefahr. Oma und ihre Leute sitzen da oben bis in alle Ewigkeit. Wahrscheinlich trinken sie Kaffee und schließen untereinander Wetten ab, wer von den Idioten, die an ihnen vorbeiziehen, es wieder runter schafft.«
Sam trank seinen Tee aus, klopfte Jonas auf die Schulter und erhob sich.
»Wir beide setzen uns jedenfalls nicht zu denen, nicht wahr?«
»Ich bin nicht so der gesellige Typ«, sagte Jonas.
»Ganz meine Ansicht. Wir winken zurück, gehen weiter und beten für ihre Seelen.«
Jonas drehte den Kugelschreiber in den Händen, knipste ihn aus und ein, aus und ein. Er schüttelte den Kopf.
»Was ist?« fragte Sam. »Was denkst du?«
»Die sitzen da wirklich so rum?«
»Dutzende. Habe es vor zwei Jahren selbst gesehen. Ausgerechnet bis zur Leichengasse hatte ich es geschafft, dann schmeißt es mich so bescheuert auf das Hinterteil, dass mein Steißbein bricht. Blöder Ort für so was. Und du kannst dir nicht vorstellen, was für Witze ich mir anhören musste.«
Sam ging Richtung Essenszelt. Jonas versuchte, in den Brief an Marie zurückzufinden, doch seine Gedanken glitten immer wieder ab, vor allem zu Marc Boyron und den Franzosen. Schließlich legte er die Ledermappe ins Zelt und machte sich auf zu einem Streifzug.
Nach wie vor schien das Lager über Nacht zu wachsen. Gebetsfahnen flatterten um die Plattformen, die sich neu angekommene Teams auf dem von Felsbrocken und Geröll bedeckten Untergrund geschaffen hatten, um ihre Zelte zu errichten.
Es gab allerhand Kuriositäten zu sehen. Ein paar Kindsköpfe trugen eine aufblasbare Puppe Richtung Khumbu, in einem Zelt konnte man sich schminken lassen, in einem anderen informierte eine Fotoausstellung über die kulturelle Identität des Sherpavolks, in einem dritten wurde man gebeten, an einem psychologischen Test teilzunehmen, der unter anderem die Libido über 5000 Höhenmetern untersuchte, und an verschiedenen Orten wurde mehr schlecht als recht auf einheimischen Instrumenten musiziert. An jeder zweiten Ecke begegnete man Sherpas, die zu keiner bestimmten Expedition gehörten, sondern als Händler zwischen den Zelten umherstreiften. Einer wollte Jonas Gras andrehen, ein anderer eine rostige Machete, ein dritter eine zerlesene Bibel.
Einer alten Sherpafrau mit tiefen dunklen Falten, die selbst hergestellte Schalen und Teller, Ketten und Amulette, aber auch Coca-Cola-Flaschen in einem riesigen Korb anbot, den sie auf dem Rücken trug, kaufte Jonas einen groben Holzbecher ab. Als er sich zum Gehen wandte, zupfte sie ihn am Ärmel.
»Du musst weg von hier!« sagte sie. »Bleib nicht! Lass den Berg und geh nach Hause!«
»Was meinst du?« fragte er, doch sie verstand kein Englisch.
»Wenn du ein Mädchen hast, geh zu ihm und vergiss den Berg! Bleib nicht hier!«
Er nickte ihr freundlich zu und wollte weiter. Doch sie hielt ihn fest, zog ihn mit erstaunlich kräftigem Griff an sich heran.
»Du musst weg! Bald! Die Sonne verschwindet, und das bedeutet Unheil! Du wirst dein Leben verlieren, wenn du hierbleibst! Geh nach Hause, geh zu deinem Mädchen, geh!«
Aha, dachte er, sie weiß, dass ich hier wegmuss, aber dass ich kein Mädchen habe, weiß sie nicht.
Vorsichtig löste er seinen Arm aus der Umklammerung ihrer schmutzigen braunen Hand, blieb jedoch stehen.
»Das habe ich schon oft gehört, Mutter«, sagte er. »Alles wird gut. Es geschieht nichts Böses, wenn die Sonne verschwindet, jedenfalls nicht mehr als sonst. Sie kommt wieder.«
»Was redest du da? Ich verstehe dich nicht! Du hast ein gutes Herz, und du musst deine Freunde warnen. Ich bleibe selbst nur bis morgen, dann gehe ich nach Hause, und sogar da bleibe ich nicht, wir ziehen zu Verwandten ins Helambu-Tal, bis
Weitere Kostenlose Bücher