Das größere Wunder: Roman
hier hatten sie vor Jahren eine Schatzkiste vergraben, die bis heute niemand entdeckt hatte und an deren Inhalt sie sich selbst kaum mehr erinnern konnten.
Erst übergab sich Jonas ein weiteres Mal, wobei er erstaunt feststellte, dass er Fieber bekam, dann trank er hastig fünf, sechs Schluck, ohne die Flasche abzusetzen und ungeachtet der zwanghaften Vorstellung, einen flüssigen Fisch zu trinken. Er würgte, trank, würgte, trank. Bald war die Flasche zu zwei Dritteln geleert. Er dachte fest an die Karte, an den Campingplatz, deutlich fühlte er, dass das Elend dieser Minuten und jene Minuten damals zusammengehörten, dass er gerade eine Zeitreise unternahm, mit einem früheren Ich kommunizierte, dass er etwas zu Ende brachte, einen Kreis schloss, und dass er irgendwann einen Nutzen daraus ziehen würde.
Das ist das Jetzt, das andere war das Damals, beide sind eins, durch meinen Willen. Ich wirke. Ich bewege meine Welt.
Nach einiger Zeit glaubte er ein Geräusch zu hören. Er setzte die Flasche ab und wandte sich um. An der Tür zur Hütte stand Gruber. Jonas kotzte ihm direkt vor die Füße, sodass der Gärtner einen Satz rückwärts machte.
»Mike?« Mit ängstlicher Miene ging Gruber noch ein paar Schritte zurück. »Bist du das, Mike?«
Jonas zuckte mit Armen und Oberkörper, rollte die Augen und stieß ein durchdringendes Geheul aus, worauf sich Gruber, dem Mike seit je unheimlich war, eilends verzog.
Er schaffte die ganze Flasche. Nachdem er sich ein letztes Mal übergeben hatte, schleppte er sich zum Haus und holte einen Eimer Wasser, mit dem er daranging, die Spuren seiner Aktion zu beseitigen.
Er putzte sich die Zähne, duschte und legte sich ins Bett. Der rote Wecker, den ihm einst sein Vater geschenkt hatte, weil er als kleiner Junge das Ticken von Uhren so angenehm fand, zeigte sechs Uhr abends an. Trotz der Übelkeit fühlte sich Jonas wie ein neuer Mensch.
»Danke«, flüsterte er in sein Kopfkissen, das nach Frische duftete, nach Frische und nach Klarheit.
13
Eines Morgens stellte Jonas beim Aufwachen in seinem frostigen Zelt fest, dass die Kopfschmerzen gewichen waren. Zwar bekam er gleich mit dem ersten Husten einen Erstickungsanfall und musste sich auf allen vieren aus dem Zelt kämpfen, wo sich seine Atemwege nach einigen Minuten beruhigten, doch insgesamt ging es ihm besser als all die Tage zuvor. Hadan fiel das beim Frühstück sofort auf.
»Ich hab dir ja gesagt, das wird schon. In ein paar Tagen wirst du wie eine Gazelle herumspringen. Wie eine junge Bergziege wirst du vor mir über den Gletscher laufen!«
»Na, ganz toll, wenn es langsam allen im Team bessergeht«, sagte Tiago überlaut. »Denn das heißt ja wohl, wir müssen nicht bis zum Herbst hier herumlungern, oder? Ich habe schon gedacht, wir warten gleich bis zur übernächsten Sonnenfinsternis!«
»Mein Freund, ich habe dir den Akklimatisierungsplan doch erklärt …«
»Ich bin nicht dein Freund.«
»Schön«, sagte Hadan. »Was genau begreifst du an diesem Plan nicht? Wenn du jetzt da hochgehst, bist du tot. Will das nicht in deinen sturen Kopf rein?«
»Ich finde, er sollte ihm nichts in den Weg legen«, raunte Sam neben Jonas.
»Ja, hast du alles erklärt«, sagte Tiago. »Gestern habe ich mit den Bulgaren geredet. Die gehen schon morgen zum Lager 1 und bleiben gleich da. Wie erklärst du mir das? Die sind doch erst vor drei Tagen angekommen. Müssen die sich nicht akklimatisieren? Ach nein, sag nichts, lass mich raten: Ihr Führer ist ein Idiot. Außer dir hat im ganzen Basislager sowieso niemand Ahnung vom Bergsteigen. Die acht Siebentausender, die ich geschafft habe, gelten ja auch nichts.«
»Ich kenne den Expeditionsleiter der Bulgaren sehr gut«, sagte Hadan ruhig. »Glaub mir, mit Hristo willst nicht mal du in einem Team sein. Es steht dir natürlich frei, dich ihnen anzuschließen, wenn sie dich wollen, oder dich auf eigene Faust aufzumachen, aber vorher unterschreibst du mir, dass du mich als Expeditionsleiter aus jeder juristischen und moralischen Verantwortung entlässt.«
Tiagos Augen waren geschlossen, seine Unterlippe war weiß und zitterte. Jonas erwartete jede Sekunde einen gewaltigen Ausbruch, doch plötzlich öffnete Tiago die Augen, lächelte entrückt, stellte wortlos seine blecherne Kaffeetasse auf den Tisch und verließ das Zelt. Anne folgte ihm ebenso schweigend. Die Sherpas, die in der Nähe gesessen waren, schauten zu Boden oder in die Luft.
»Spitzenmäßig«, sagte Sven. »Da
Weitere Kostenlose Bücher