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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Ihr seid befreundet?«
    »Weiß nicht. Kann man so sagen, ja.«
    Jonas stand abrupt auf und stellte seine Tasse in die Plastikwanne mit dem schmutzigen Geschirr. Sam krächzte ihm etwas hinterher, doch Jonas schob sich durch das Gedränge nach draußen und ging zu seinem Zelt.
    Er setzte sich auf seinen Klappstuhl und versuchte zu lesen. Dabei nahm er nicht einmal wahr, ob er ein Buch oder eine Zeitschrift in der Hand hielt. Die Bilder, die Stimmungen jener Wochen, als er das erste Mal in der Antarktis gewesen war, ließen ihn nicht los.
    Zusammen mit Marie, ihren Freunden und einigen anderen Bekannten hatte er im Patriot Hills Base Camp seine zehnte Sonnenfinsternis erlebt. Eigentlich war der Mount Vinson ihr Ziel gewesen, doch das Wetter hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, was ihn dann, als es soweit war, gar nicht mehr bekümmerte. Neben ihr stand er im Eis, als sich der Himmel verdunkelte, er fühlte sie bei sich und war unendlich dankbar für sein Leben, sein Glück, für das Wunder, der Geliebte dieser Frau zu sein und dieses dramatische Schauspiel der Natur zu erleben. Ein Schauspiel, das es in Tausenden von Jahren nicht mehr geben würde, weil sich der Trabant von der Erde wegbewegte und die Sonnenscheibe eines Tages nicht mehr vollkommen ausfüllen würde.
    Daran dachte er nun vor seinem Zelt, mit dem er schon auf der ganzen Welt unterwegs gewesen war, auch mit Marie. Daran dachte er, während sein Blick über die Bergflanken schweifte, gigantische steinerne Wände, von der Sonne in strahlendes Licht getaucht, die sich in einigen Wochen wieder für wenige Minuten verdunkeln würde. Daran dachte er und an Marie und an die Wunder, die er erlebt hatte. Und daran, dass das eine Wunder geendet hatte.
    Das größere Wunder. Zu Ende. Und nichts auf der Welt, das es zurückzubringen vermochte.
    Doch. Etwas schon. Ein neues Wunder.

14
     
    Während Jonas und Werner mit Mike im seichten Wasser Fangen spielten, kam vom anderen Ufer des Sees ein Mädchen zielstrebig zu ihnen geschwommen. Sie stieg aus dem Wasser, nahm einen Lolly aus dem Mund und sagte:
    »Finde ich cool, was ihr da macht.«
    »Was machen wir denn?« fragte Werner.
    »Ihr kümmert euch toll um ihn.« Sie zeigte mit dem Lolly auf Mike. »Obwohl er definitiv anders ist.«
    »Passt dir etwas nicht an ihm?« fragte Jonas.
    »So etwas Irres ist mir auch noch nicht untergekommen«, sagte sie. »Der eine sieht aus wie der andere, und sie sind so verschieden, wie sie nur sein können. Unfall? Oder bei der Geburt?«
    »Unfall bei der Geburt«, sagte Jonas und fragte sich in der Sekunde, ob ihn dieses schöne Mädchen mit seinem durchdringenden Blick wohl hypnotisieren wollte.
    »Tut mir leid«, sagte sie und warf den Kopf zurück, um ihre langen blonden Haare im Nacken zusammenzubinden. Den Lolly im Mund, nuschelte sie:
    »Ich bin Vera. Wer seid ihr?«
    »Das da ist Jonas«, sagte Werner und zeigte auf Mike. »Das da ist Mike«, er zeigte auf Jonas, »und das da ist Werner.« Er zeigte auf seine Brust, wo die ersten Haare zu sprießen begannen, wie Jonas neidisch bemerkte. »Willst du dich zu uns legen?«
    »Das überlege ich mir lieber nochmal. Du da, du bist Mike?«
    »Er redet Blödsinn. Ich bin Jonas, und mein Bruder hier heißt Mike.«
    »Also wie? Du bist Jonas? Und du Mike? Das bringe ich jetzt garantiert immer durcheinander.«
    Sie fasste Mike sanft an der Schulter und lächelte ihn an. Nicht mitleidig, sondern offen und freundlich, als wollte sie abwarten, wie er auf ihre Erscheinung reagierte. Die meisten Menschen wichen Mikes Blick aus, berührten ihn nie und sprachen ihn nicht an, sagten nur »er«.
    Mike grunzte und fasste nach ihrem Haar. Sie ließ ihn gewähren. Erst als er versuchte, ihre Brüste zu berühren, wich sie zurück. Jonas hielt Mikes Hand fest, dabei lief er rot an.
    »Tut mir leid, das … Er ist nicht immer so, es ist ihm heute einfach zu heiß …«
    »Kein Problem, er ist wenigstens ehrlich.«
    Mike lachte und klatschte in die Hände. Schnell leerte Jonas die Tüte mit den Spielzeugsoldaten vor ihm aus, doch Mike kümmerte sich nicht darum, zu fasziniert war er von Veras Haaren. Jonas griff zum letzten Mittel, er packte Mikes Feuerlöscher aus, den er heimlich mitgenommen hatte. Nichts spielte Mike lieber als Feuerwehrmann, doch man musste ihn im Auge behalten, damit er nicht ein Feuerzeug auspackte und Brände entfachte.
    »Du kennst deinen Bruder aber gut«, sagte Vera, als Mike zufrieden Richtung Ufer

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