Das größere Wunder: Roman
würde er es mit der Zeit besser verstehen lernen.
Wie jemand, der nach einer langen Reise in ungewohnter Umgebung aufgewacht war, streifte er durchs Haus. Alles wirkte fremd. Die Farben hatten einen lebendigeren Glanz, die Konturen der Möbel schienen plötzlich einen neuen Sinn zu bekommen, ja sogar seine Hände waren nicht mehr nur seine Hände.
Diese Hand, die ich betrachte, sie ist meine. Sie war meine, als ich kleiner war, und sie wird meine sein, wenn sie aufgehört hat zu wachsen. Das war ich. Das bin ich. Ich werde sein.
Und irgendwann wirst du nicht mehr sein. Dann wird diese Hand noch sein, ohne dein Ich, diese Hand wird sein und langsam aus dem Sein verschwinden, verwesen wird sie, vergessen wird sie, ichlose Hand.
Alles ist vergänglich. Du bist vergänglich. Alles vergeht und verweht.
Zeit ist neutral. Zeit ist den Dingen gegenüber gleichgültig. Zeit ist unerbittlich. Keine Sekunde, auf die nicht die nächste folgte. Keine Sekunde, die nicht vergangen wäre. Ob schön. Ob schrecklich.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Jonas prallte zurück. Zach, gegen dessen breite Brust er beinahe gerannt wäre, musterte ihn misstrauisch.
»Was ist mit dir? Welches Unheil tüftelst du nun schon wieder aus? Was fliegt denn diesmal in die Luft?«
»Ah, du weißt also …«
»Natürlich weiß ich also, ich wusste noch am selben Tag also. So blöd könnt auch nur ihr sein. Was ist da eigentlich schiefgegangen? Ihr wolltet doch nicht den halben Bauernhof in die Luft jagen? Wisst ihr, dass in einer deutschen Zeitung Terroristen ins Spiel gebracht worden sind? ›Explodierte Schweine: War es die RAF?‹ Könnt stolz auf euch sein. Ich habe euch doch eingeschärft, der wichtigste Punkt ist das Mischverhältnis …«
»Haben wir Olivenöl?« unterbrach ihn Jonas.
»Für eine Bombe brauchst du doch kein Olivenöl! Oder willst du kochen lernen? Du wirst aber nicht schwul?«
Zach sandte ihm noch eine Reihe guter Ratschläge und Mahnungen hinterher, doch Jonas war rasch außer Hörweite. In der Speisekammer, die die Größe einer Garage hatte, fand er eine Halbliterflasche Olivenöl. Er suchte noch eine Weile, doch eine kleinere gab es nicht.
Was hatte Kaltpressung zu bedeuten? Und was Extra Vergine? Egal, leichter machte es ihm die Sache bestimmt auch nicht.
Mit heftig pochendem Herzen schlich er hinaus in den Garten. Hinter einer Hecke schraubte er die Flasche auf und hielt sie sich an die Nase.
»Mann Gottes!« stöhnte er.
Er setzte die Flasche an und trank einen Schluck. Hoch über ihm zogen Schwalben durch den blauen Himmel, irgendwo in der Nähe dröhnte der Rasenmäher, Jonas nahm beides kaum wahr. Er trank noch einen Schluck und noch einen, unterdrückte den Würgereiz und versuchte an den Campingplatz zu denken.
Nach dem dritten Schluck rebellierte sein Körper und beförderte alles in einem Schwall zurück nach oben.
Jonas wartete, bis das Brennen in seiner Speiseröhre ein wenig abgenommen hatte. Als er den nächsten Schluck nahm, sah er Zach, der keine fünf Meter von ihm entfernt stand, den Kopf schief gelegt, ein Auge zugekniffen, und ihn mit dem anderen anstarrte. Dabei nickte er leicht, als wollte er sagen, er hätte es ja immer schon gewusst. Jonas winkte entnervt ab und verschwand hinter der nächsten Ecke.
Neben dem Kastanienbaum, in dem sie schon vor der Reise nach Amerika begonnen hatten, ein Baumhaus zu errichten, hielt er Ausschau, ob ihm nicht Zach irgendwo auflauerte. Er atmete tief aus, hielt sich die Nase zu und trank. Irgendwie gelang es ihm, die zähflüssige Konsistenz der Flüssigkeit weitgehend zu ignorieren und einen Rhythmus zu finden, er trank drei Schluck, würgte, trank zwei, würgte, trank wieder drei, würgte wieder.
Nach einer Weile beschlich ihn das Gefühl, nicht allein zu sein. Er schaute sich um, doch da war niemand, und er machte weiter. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wich indes nicht, und schließlich richtete er den Blick nach oben, wo er über sich Picco entdeckte, der sich gemütlich aus dem Fenster lehnte und ihn wortlos betrachtete. Seine Miene verriet keine Regung.
»Zum Teufel, hat man hier denn nirgends seine Ruhe?«
Auf schwachen Beinen und mit tobendem Magen wankte er durch den weitläufigen Garten nach hinten zu der Wellblechhütte, in der Geräte und Werkzeuge aufbewahrt wurden und wohin sich so gut wie nie jemand verirrte. Hier hatten Jonas und Werner ihre ersten Zigaretten geraucht, hier hatten sie mit heißen Ohren ein Sexheft durchgeblättert,
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