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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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sind Kinder, wir müssen erzogen werden! Man kann uns nicht erlauben, Schweineställe zu sprengen!«
    »Zumal er den Hintergrund nicht kennt«, nickte Werner. »Er muss ja glauben, wir haben die Schweine aus Jux getötet. Da wären wir wahre Monster! Hält der uns für Monster?«
    »Wir sollten wirklich mal mit ihm reden.«
    Irgendwo in der Nähe ertönte ein furchtbares Scheppern und Getöse, gefolgt von Kreischen und Geplärre. Sie sprangen auf und hetzten durch das ganze Haus, den Schreien hinterher, die mal aus dieser, mal aus jener Richtung drangen. Endlich fanden sie Mike in seinem Badezimmer. Er war mit dem Dosenanzug in die Duschkabine gestürzt. Verletzt schien er sich nicht zu haben, vielmehr drückte seine Miene Empörung darüber aus, in solch eine unwürdige Situation geraten zu sein.
    »Junge, Junge, du kannst einen aber auch erschrecken.«
    Jonas zog seinen Bruder aus der Kabine. Mit Werners Hilfe montierte er die Dosen ab. Mike grunzte unwirsch.
    »Alles in Ordnung?« tönte Reginas Stimme von unten.
    »Ja, alles bestens!« rief Jonas. Und zu Werner: »Ich frage mich bloß, wo sich Sascha und Lisa rumtreiben. Hast du sie gesehen?«
    »Lisa hat frei. Sascha sitzt wahrscheinlich irgendwo im Garten und macht Yoga.«
    »Der sollte weniger an sein Yoga als an Mike denken.«
    Werner wickelte einen Kaugummi aus und steckte ihn Mike in den Mund.
    »Ist das nicht sowieso schlecht, dass wir alles tun dürfen? Streiche spielen und so? Ist das nicht schlecht für unsere Entwicklung? Vor allem für die charakterliche?«
    »Wären wir dümmer, wäre es schlecht«, sagte Jonas nach einigem Sinnen. »Aber wir wissen ja, dass wir diese Grenzen brauchen würden, auch wenn wir sie nicht gesetzt bekommen. Hm. Ich denke … ja, wir machen es so: Wir stellen uns einfach vor, wir hätten eine Strafpredigt bekommen, und bestrafen uns selbst.«
    »Das klingt völlig idiotisch, aber okay. Und wie bestrafen wir uns?«
    »Tja. Lass uns nachdenken.«
    »Na gut. Denken wir mal.«
    Werner setzte sich auf die Waschmaschine und ließ die Beine baumeln.
    »Warum schaust du so traurig, Mike? Weil du kein Roboter mehr bist?«
    Jonas hockte sich neben Mike auf den Boden und umarmte ihn, bis dieser jenes Gelächter ausstieß, das an Affengeschrei erinnerte und anzeigte, dass er glücklich war oder wenigstens leidlich zufrieden mit dem Lauf der Dinge.
    »Willst du baden, Mike? Wollen wir zusammen zum Fluss?«
    Mike nickte, lachte und klatschte in die Hände.
    »Okay, dann bleib sitzen, ich bring dir deine Badehose.«
    »Strafen nützen nichts«, sagte Werner auf dem Weg in Mikes Zimmer.
    »Strafen nützen gar nichts«, bekräftigte Jonas. »Sie verändern den Menschen nicht zum Besseren, das sagt sogar Mrs. Hunt.«
     
    Tags darauf stieß Jonas zufällig auf die Karte, die er sich selbst aus Amerika geschickt hatte. Während seiner Krankheit hatte er den kleinen Poststapel auf seinem Schreibtisch nicht beachtet, bald danach waren Bücher und Hefte darauf gelegen, und erst als sie ihm beim Aufräumen in die Hände fiel, erinnerte er sich an den Tag auf dem Campingplatz, an dem er sie geschrieben hatte.
    Eine Flasche Olivenöl trinken , stand da.
    »Scheiße«, sagte Jonas.
    Hätte es nicht der Hitlerbart sein können? Oder der Friedhof? Lieber hätte er sogar sein Bett angezündet, irgendeine Ausrede wäre ihm schon eingefallen. Ausgerechnet das Olivenöl.
    Er drehte die Karte in den Händen. Betrachtete sie.
    Die Erinnerung an den Moment, in dem er sie in den Briefkasten geworfen hatte, kehrte zurück.
    Erinnere dich, erinnere dich, hatte er sich eingeschärft.
    Jonas tauchte ins Damals ein. Fühlte die Karte. Die Hitze. Das Metall des Briefkastens unter seinen Fingern. Hörte das Zuklappen des Deckels und Kinder, die in der Ferne lachten. Sah die Ameisenstraße auf dem Boden, ein verwehtes Taschentuch. Er roch den Duft des Pinienwaldes, in dessen Mitte der Campingplatz lag.
    Nur einige Sekunden hielt dieser Zauber an, doch für ihn war diese Zeitspanne reicher als manch ein Tag.
    Jonas öffnete die Augen und holte tief Luft. Das war etwas Großes. Er war auf etwas wirklich Bedeutsames gestoßen. Was genau es war, konnte er sich nicht erklären, doch es hatte eine Tiefe, die es für ihn nie mehr verlieren würde. Ihm war bewusst, dass er ein Kind war und vieles sich verändern, er ein anderer werden würde, wieder und wieder, sein ganzes Leben lang, doch das hier, es würde Bestand haben. Das hier würde immer ihm gehören. Und vielleicht

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