Das größere Wunder: Roman
der als erster oben ist!«
»Das will ich nicht gehört haben«, sagte Hadan.
Jonas winkte nach hinten und setzte seine Kopfhörer auf, was wegen der Mützen und des hohen Kragens nicht einfach war. Am Vorabend hatte ihm Hank noch vom Musikhören im Gletscherbruch abgeraten, weil man auf diese Art weder Warnrufe noch das Krachen der Séracs hören konnte, doch Jonas verspürte das dringende Bedürfnis, sich nach außen hin abzuschotten. Und einem über ihm zusammenbrechenden Hochhaus aus Eis würde er wohl so oder so nicht entkommen.
Ein Stück weiter vorne sah er die tanzenden Lichter einer anderen Gruppe, die den Khumbu in Angriff nahm. Angst stieg in ihm hoch. Er schaltete die Musik ein und versuchte, an nichts zu denken.
Vor ihm ragten die dunklen Umrisse der Eistürme auf. Obwohl sein Herz immer schneller schlug und ihn die Furcht vor dem, was da vor ihm lag, mehr und mehr gefangennahm, ging er in gleichmäßigem Tempo weiter.
16
Gelegentlich stahl er sich abends aus dem Haus und fuhr hin. Hinter einem Auto versteckt, wartete er, bis seine Mutter heimkam. Oft wurde es spät, denn sie hatte ihre alten Gewohnheiten nicht aufgegeben. Mit einer Mischung aus Scham und Sorge beobachtete er, wie sie aus einem Wagen stieg und auf die Haustür zutorkelte, während der Unbekannte am Steuer Gas gab und sein Gefährt hinter der nächsten Kurve verschwand.
Kurz darauf flammte in der Küche Licht auf. Wegen der Vorhänge konnte er nicht verfolgen, was darin geschah, doch er sah die ganze Wohnung vor sich: den Tisch, an dem er gegessen und gelernt hatte, die Couch, auf der er Comics gelesen hatte, das Bücherregal über seinem Bett, wo er hinter den Gesammelten Werken von Karl May Süßigkeiten für Mike und sich aufbewahrte, die mittlerweile wohl ungenießbar waren, den Fleck auf dem Teppich, der von einem verschütteten Teller Spinat stammte, die Farbe der Tapete, die verschlissenen Hausschuhe seiner Mutter.
Hier war er klein gewesen, das hier war vorbei, das da drinnen gehörte ihm nicht mehr, hatte ihn ausgespuckt. Aus einem Grund, den er nicht verstand.
Von diesen Besuchen erzählte er niemandem, nicht einmal Werner. In gewisser Weise hielt er sie sogar vor sich selbst verborgen, denn sobald er sich die Tränen abgewischt hatte, die ihm auf dem Fahrrad irgendwo zwischen seinem alten und seinem neuen Zuhause kamen, dachte er nicht mehr über das nach, was er gesehen hatte, ebenso wenig wie über das, was er sich so sehr wünschte. Er fühlte, wie traurig und verletzt er war. Er merkte, wie ungerecht ihn das Leben behandelte, wie sehr er sich nach der schützenden Biederkeit eines Zuhauses mit einem normalen Vater und einer normalen Mutter sehnte, doch da er wusste, dass er nichts daran ändern konnte, vermied er jede Auseinandersetzung mit diesem Problem.
Ist der Gegner stärker, weiche zurück.
Der Schlüssel lag eines Tages einfach da, auf dem Tisch, als sie in die Burg kamen.
»Darf das wahr sein!« rief Werner. »Ich dachte schon, wir müssten mit einem Brecheisen anrücken.«
Er versuchte es zunächst an der roten Tür, die ihre Phantasie am meisten beschäftigte.
»Mist«, sagte er. »Passt nicht.«
Er gab Jonas den Schlüssel, der probierte es an der zweiten Tür. Auch nichts. Nun war wieder Werner an der Reihe, und er hatte an der dritten Tür Glück.
»Moment noch«, rief Jonas. »Was glaubst du, was finden wir da drin?«
»Spielzeug«, sagte Werner.
»Meinst du wirklich?«
»Na ja, wir sind Kinder, und Kinder kriegen Spielzeug.«
Das Zimmer lag im Dunkeln, und sie mussten erst nach einem Lichtschalter tasten. Als sie ihn endlich fanden, flammten drei kleine Lampen auf, die von der Decke hingen.
»Also, mit Picco kann das hier nichts zu tun haben«, waren Werners erste Worte.
»Oder gerade eben«, sagte Jonas.
Sie standen in einer Hauskapelle. Auf den Stühlen vor dem Altar lagen eine Bibel und ein Gesangsbuch, neben dem Tabernakel hing ein Jesusbild, und in einer Ecke schaute eine Statue der Muttergottes auf sie herunter.
»Jetzt bin ich gespannt, was das für Heilige sind«, sagte Werner und deutete auf zwei Gemälde an der Wand.
»Der sieht aus wie Gruber, wenn du mich fragst.«
»Das ist ja der heilige Paulus«, rief Werner, nachdem er die Schrift unter dem Bild gelesen hatte. »Kannst du dir erklären, was das hier soll?«
Jonas setzte sich auf einen Stuhl vor dem Altar.
»Ich weiß nicht. Vielleicht.«
Sie saßen in einem Restaurant beim Essen.
Jonas starrte in
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