Das größere Wunder: Roman
entschied, das er im Frühjahr gekauft hatte. Ehe er hinausging, wischte er seine feuchten Hände an der Jeans ab, räusperte sich und prüfte sein Aussehen mit einem letzten kurzen Blick in den Wandspiegel, auf den Werner vor Wochen mit seinem wasserfesten Stift Eselsohren und einen Rauschebart gemalt hatte.
Auf der Treppe lief er Gruber in die Arme.
»Seid ihr nicht etwas zu jung für das Mädchen, das da seit Wochen bei uns rumsitzt?«
»Kann sein. Aber sind Sie nicht etwas zu alt, um das zu beurteilen?«
Jonas lüftete einen imaginären Hut und kümmerte sich nicht weiter um den schimpfenden Gruber. So ungezwungen wie möglich schlenderte er ins Wohnzimmer. Vera saß mit angezogenen Beinen neben Werner auf der Couch, vor sich einen Stapel Videokassetten, und schaffte es, die Fernbedienung auf ihrem Kopf zu balancieren und dabei den laut schnurrenden Dagobert zu streicheln.
»Wo bleibst du denn?« rief sie. »Bereit für acht Folgen Fanta Street am Stück?«
»Das glaube ich nicht.«
»Hey, du Kanarienvogel!« rief Werner. »War die Schrankaktion für das Würstchen oder für die Spinne im Bett? So ein Gesicht wie du mit dem rohen Würstchen im Mund kann ich gar nicht gemacht haben.«
»Immerhin war ich nicht nackt. Und was das Würstchen anbelangt …«
»Was ist los?« fragte Vera. »Was habt ihr beide schon wieder? Gibt es Geheimnisse, die ich kennen muss? Ich muss grundsätzlich alle Geheimnisse kennen!«
»Das nicht«, sagte Jonas und nahm ihr die Fernbedienung vom Kopf, »aber es gibt einen Ort, den du kennen musst.«
»Ja, und der heißt Fanta Street. Euer Baumhaus kenne ich außerdem schon.«
»Jonas, es schüttet draußen, das ist ein ganz widerliches Sommergewitter, falls es dir nicht aufgefallen ist. Was willst du ihr denn zeigen?«
»Die Piste.«
»Die Piste? Bei diesem Wetter?«
»Eben deshalb.«
»Und womit? Mit den Rädern? Du willst ja wohl nicht, dass uns Gruber hinbringt.«
»Mit einem Traktor!«
»Mit einem – das meinst du ja wohl nicht ernst.«
»Doch. Ich habe mir das überlegt, das ist eine gute Idee, denke ich.«
»Das ist eine Schnapsidee. Wo kriegen wir überhaupt einen Traktor her?«
»Die Künstlerin da unten, die voriges Jahr hergezogen ist, hat doch einen. Steht sowieso immer nur in der Scheune. Und zumindest die letzten Male, als ich da war, hat der Schlüssel gesteckt. Ist zwar ein Museumsstück, aber für einen kleinen Ausflug reicht es.«
»Die Piste, mit einem Traktor!«
»Moment mal«, sagte Vera. »Glaubt ihr zwei Deppen wirklich, ich unternehme mit euch einen Traktorausflug im Regen, anstatt Fanta Street zu gucken?«
»Das können wir doch hinterher machen.«
»Quatsch. Ich verstehe gar nicht, worum es geht.«
»Holst du ihn?« fragte Werner.
Jonas schüttelte den Kopf. »Wozu? Wir laufen alle zusammen hin und steigen auf.«
»Und wenn der Schlüssel nicht steckt? Dann sind wir umsonst in dieses Sauwetter raus. Ich bin doch nicht Humboldt.«
»Ich war mal auf dem Humboldt-Internat«, sagte Vera. »Fanta Street! Fanta Street!«
Sie schob eine Kassette in den Videorecorder, legte die nackten Füße auf den Couchtisch und startete das Band.
»Du musst mitkommen«, sagte Jonas zu Werner. »Ich weiß nicht, ob ich den Anhänger allein abkoppeln kann. Den brauchen wir nicht.«
»Na dann los. Vera?«
»Fanta Street!«
»Später!«
»Fanta Street!«
»Später!«
»Fanta Street!«
»Wenn du jetzt gleich mitkommst«, sagte Jonas, »lasse ich ein Straßenschild herstellen, auf dem Fanta Street steht, und schraube es nachts an euer Haus.«
»Deine Mutter wird sich bestimmt freuen«, sagte Werner.
Vera drückte die Stopptaste, band sich die Haare zusammen und stand mit einem Stoßseufzer auf.
»Aber wehe, es wird langweilig!«
Als sie nach einem Spaziergang von zehn Minuten quer über Felder und Wiesen völlig durchnässt auf dem Grundstück der Künstlerin ankamen, die bloß am Wochenende da war und an sonnigen Tagen vor ihrem Bauernhaus saß, um es aus allen Perspektiven zu malen, hielt Jonas, der den wütenden Blicken Veras, deren Turnschuhe schon ziemlich mitgenommen aussahen, auszuweichen versuchte, kurz inne.
Wenn der Schlüssel nicht steckt, dachte er, bringt sie mich um, und wenn der Schlüssel steckt und das Ding nicht anspringt, bringt er mich um.
Der Schlüssel steckte, und der Motor sprang sofort an. Das Gefährt knatterte und vibrierte, der hintere Teil der Scheune füllte sich mit schwarzem Rauch. Jonas stellte den Motor wieder
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