Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
andere Sherpas gerade Proviant und Seile einlagerten.
    »Da trollt er sich. Kein Humor. Und so jemand gibt einem womöglich Anweisungen, wenn die Lage gefährlich wird.«
    »Reg dich nicht so über den Zwerg auf, bring lieber mal deine Steigeisen in Ordnung«, sagte Anne.
    »Kannst du mir mal Ruhe geben mit deinen Steigeisen? Wir übernachten hier, heute brauche ich sie ohnehin nicht mehr. Außerdem warte ich auf Hadan, soll er sich darum kümmern, wofür bezahlen wir ihn? Hey du, Jonas oder Jones? Hab deinen Namen nicht richtig mitgekriegt. Warst du auf dem McKinley? Wie lange hast du raufgebraucht?«
    »Tut mir leid«, sagte Jonas und massierte sich die Schläfen, eine nutzlose Geste, wie er wusste, da der Schmerz zu tief saß. »Ich muss mich dringend hinlegen. Ihr wisst nicht zufällig, welches Zelt meines ist?«
    »Du verwechselst mich wohl mit dem Hausmeister. Wenn du irgendwas über die Zelte wissen willst, musst du einen von den Mäusen fragen.«
    Anne pustete lachend in ihren Tee. »Tiago, die können dich hören!«
    »Und wenn schon. Sie sehen aus wie Mäuse, sie sind flink wie Mäuse, sie sind lästig wie Mäuse, es müssen Mäuse sein!«
    Während Jonas auf das nächstbeste Zelt zuwankte, seinen Rucksack hinter sich herschleifend, hörte er das Pling der Kamera, die offenbar wieder eingeschaltet worden war. Vermutlich filmten sie ihn gerade. Es war ihm egal.
    Der Schmerz in seinem Kopf wuchs von Sekunde zu Sekunde. Fast ohne es zu merken übergab er sich. Als er fertig war und sich das Gesicht mit Schnee abwischte, sah er eine Gestalt neben sich, die er zunächst für Ang Babu hielt, bis er die Narbe an Lobsangs Backe erkannte, die der Sherpa dem Eispickel eines ungeschickten Kunden zu verdanken hatte.
    »Los, leg dich da rein. Ich bringe dir etwas zu trinken, und dann funke ich zu Dr. Helen hinunter.«
     
    Schmerz. Der sich ausdehnt, pulsiert, sich selbst eine Gestalt gibt, um sie gleich wieder abzustreifen.
    Schmerz, stärker als du. Du möchtest davonlaufen, weinen, nicht du sein. Alles, was dir bleibt, sind Schreie zu irgendeinem dunklen Gott.

18
     
    Allmählich wurde ihm die Luft knapp.
    Schon seit einer halben Stunde kauerte er in Werners Kleiderschrank, eine nach Plastik stinkende Gorillamaske auf dem Kopf und die Finger am Auslöser einer Handsirene, wie sie auf Fußballplätzen verkauft wurden und die den Lärmpegel eines startenden Düsenjägers erreichten, und nun kam der Kerl einfach nicht.
    Endlich – das Schloss der Badezimmertür schnappte auf. Schritte näherten sich. Die Stereoanlage wurde angestellt, irgendein Reggaesong, den Jonas nicht kannte. Er hielt den Atem an.
    Die Tür ging nicht auf.
    Was war da los? In wenigen Minuten würde Vera läuten. Wollte Werner ihr etwa nackt die Tür öffnen?
    Mach auf, Mensch! Wenn ich bloß aus dem Schrank hüpfe, erschreckst du dich nicht genug, und wenn ich aufgebe und rauskomme, hältst du mir diese Niederlage ewig vor. O nein, du Strolch, du machst jetzt diese Tür auf. Jetzt. Los.
    Jonas spannte alle Muskeln an und bereitete sich darauf vor, sich aus dem Schrank zu katapultieren. Als die Tür knarrte und das Licht einfiel, drückte Jonas die Handsirene, brüllte wie verrückt und stürmte vorwärts.
    Werner machte einen Satz nach hinten, stürzte über einen Stuhl, überschlug sich und knallte mit dem Rücken gegen das Bücherregal. Sein Rubik-Würfel fiel herab und traf ihn am Kopf. Werner schien es nicht zu merken. Bleich, reglos und nackt saß er auf dem Boden und starrte das Monster, das aus seinem Schrank gestiegen war, mit glasigen Augen an.
    Jonas nahm die Maske ab und warf sie Werner auf den Bauch.
    »Nur um sicherzugehen, dass du keinen Herzinfarkt hast: Sag etwas.«
    »Du blöder, elender, mieser Wicht …«
    »Das wollte ich hören«, sagte Jonas und ging ins Bad, um sich den Schweiß abzuwaschen, den ihn die halbe Stunde in dem stickigen Schrank gekostet hatte.
    »An deiner Stelle würde ich in nächster Zeit nicht zu tief schlafen!« schrie ihm Werner hinterher. »An deiner Stelle würde ich überhaupt nicht mehr schlafen!«
     
    Als Jonas die Schiebetür der Duschkabine öffnete und auf den Vorleger trat, hörte er die Türglocke. Rasch trocknete er sich ab, fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar und trug die Aknecreme auf. Zwar hatte er keine Akne, doch sicher war sicher, er kannte Jungs in seinem Alter, die aussahen wie Streuselkuchen.
    Auf Zehenspitzen ging er in sein Zimmer, wo er sich in aller Eile für das gelbe Hemd

Weitere Kostenlose Bücher