Das größere Wunder: Roman
stand oder mit der Nachbarin stritt oder dem Bild über dem Bett ein Strichmännchen hinzugefügt hatte.
Auf allen vieren kroch er im Zelt umher, bis er seinen iPod gefunden hatte, dann zog er kraftlos den Reißverschluss am Eingang auf. Draußen wartete der wie immer strahlende Padang mit einer Tasse Tee, die in der Morgenkälte dampfte.
»Auch zu lange getanzt?« fragte er in schadenfrohem Ton. »Chang-Bier vertragt ihr Westler alle nicht.«
»Ich bin um elf ins Bett. Hab trotzdem kein Auge zugetan.«
»Hierher kommt man auch nicht, um zu schlafen. Um Partys zu feiern aber noch weniger. Sieh dir die Jammergestalten da drüben an, die haben bis zum Ende durchgehalten. Spätestens im oberen Teil des Eisbruchs werden sie heulen.«
»Wie oft warst du denn eigentlich schon da oben?«
»Ich? Bin ich verrückt? Kein einziges Mal!«
Padang grinste, und im Schein von Jonas’ Stirnlampe leuchtete der Goldzahn, auf den der Sherpa so stolz war. Jonas trank einen Schluck Tee und verbrühte sich die Lippen.
»Und gestern? Hast du nicht bis zum Schluss mitgefeiert?«
»Ich bin das gewöhnt, das Feiern und den Berg, mir macht das nichts aus. Außerdem muss ich da nicht rauf. Ich bleibe hier und kümmere mich um das Lager, schon vergessen?«
»Gerade wollte ich dich bitten, meinen Rucksack hochzutragen.«
Padang nahm die leere Tasse in Empfang.
»Warte! Sag mal was auf Nepali.«
»Das kann ich nicht, Padang.«
»Natürlich kannst du es.«
»Ich schwöre dir, ich kann es nicht.«
»Aber wieso verstehst du es dann?«
»Ich weiß es nicht, Padang.«
Der Sherpa zuckte die Schultern. »Dann behalte es für dich, du sturer Yak! Alles Gute für heute. Du schaffst das schon. Lager 1 ist ein Kinderspiel!«
»Die Kinder möchte ich kennenlernen«, sagte Jonas und schleppte sich zu der Gruppe um Hadan, die sich vor dem Essenszelt versammelt hatte.
»Ich sehe, wir sind vollzählig«, sagte Hadan. »Gibt es noch Fragen?«
»Tiago und Anne fehlen noch«, rief eine Stimme.
»Wem?« fragte Sam.
Einige lachten, Hadan gebot ihnen Stille.
»Leute, das ist ein großes Hotel, ein paar der Gäste wollen ihren Rausch ausschlafen, was sehr ungesund ist. Ihr werdet euren jetzt rausschwitzen. Tiago und Anne konnten es nicht erwarten und sind schon vor einer halben Stunde mit Ang Babu und Lobsang los. Ich nehme an, wir holen die beiden unterwegs ein.
Ganz wichtig: Jeder geht sein eigenes Tempo! Hört auf euch, vertraut eurem Rhythmus. Keine Spielereien im Eisbruch! Wir sollten zusehen, dass wir durch sind, ehe die Sonne die große Schmelze ausbrechen lässt. Es gibt da oben zwei, drei Wackelkandidaten unter den größeren Séracs, und wenn die zusammenstürzen, will ich keinen von euch in der Nähe wissen. Trotzdem keine Hast, wir haben genug Zeit, ihr seid eine hervorragende Truppe. Also keine Wettrennen! Auf geht’s!«
Die Schar setzte sich in Bewegung. Die Lichter ihrer Stirnlampen tanzten über die Steine auf dem Weg, unter den Schuhen knirschte Geröll, jemand gähnte laut, was von einem anderem mit Lachen kommentiert wurde. Neben Jonas ging Sam, dessen Stimme sich sogar noch schlimmer anhörte als am Tag zuvor.
»Hast du mit Helen geredet?« fragte Jonas. »Du brauchst offensichtlich irgendetwas aus ihrem Arzneikoffer.«
»Was ich brauche, ist ein gezielter Kopfschuss«, krächzte Sam. »Ich bin ungefähr vor drei Stunden oder auch erst vor fünf Minuten zu meinem Zelt gewankt und habe den ganzen Schlafsack vollgekotzt. Verdammter Tequila! Ich bin völlig hinüber!«
»Man riecht’s.«
»Aber weißt du, mir ist das völlig egal. Beim ersten Mal auf so einem Berg glaubt man, das schafft man nie. Man hält das niemals aus, man kann es nicht, es ist zu groß, zu schwierig, zu anstrengend, zu schmerzhaft, zu sinnlos und bla bla bla. Irgendwann lernt man’s. Solange du lebst, kannst du immer noch mehr Schmerzen ertragen, noch Schwierigeres bewältigen, deine Grenzen noch weiter verschieben. Alles kannst du schaffen, alles! O tausend Teufel!«
Er trat aus der Reihe, stemmte die Hände auf die Knie und übergab sich.
Kurz überlegte Jonas, ob er warten sollte, doch er fühlte sich von Minute zu Minute frischer und wollte auf dem ersten Stück rasch vorwärtskommen, um an den Leitern nicht warten zu müssen, wovor Hadan ihn gewarnt hatte.
»Sieh an«, rief Hadan, als Jonas ihn überholte und sich an die Spitze des Zugs setzte, »die Problemkinder haben sich entwickelt.«
»Streber«, sagte Nina. »Hundert Euro für den,
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