Das größere Wunder: Roman
seine Gemüsesuppe, blickte auf, sah Picco wie in Zeitlupe aus seinem Weinglas trinken, trank selbst ein Glas Wasser, langsam, schmerzhaft langsam, starrte in seine Suppe.
Der Wein muss gekeltert werden, dachte er. Jemand hat die Kuh gemolken, die die Milch gab, aus der die Sahne wurde, die der Koch beigefügt hat. Wer ist Mr. Koch? Wer hat ihn ausgebildet? Sein Meister, war er streng? Wer hat den Ofen gebracht? Das Salz, das der Koch in den Topf warf, wer hat es abgebaut? Wie sieht eine Saline aus? Der Pfeffer in der Suppe, wo wuchs er? Ich esse Brot dazu, jemand hat es gebacken, aus Mehl, das Weizen war. Salzmine. Pfefferschiff. Weizenfeld. Kuhstall. Weingarten. Ofenbauer. Eine Suppe. Darin die ganze Welt.
Ich bin der Endpunkt vieler Menschen Arbeit. Keinen davon kenne ich. Keiner davon kennt mich. Es spielt auch keine Rolle. Wir alle sind verbunden. Niemand kann sich lösen. Entkommen gibt es keines.
17
Am späten Vormittag kam Jonas auf 6100 Meter Höhe in Lager 1 an, wegen der Anstrengung und der Sonne, die seit Stunden kraftvoll in den Eisbruch schien, schweißnass bis in die untersten Schichten seiner Kleidung, und auch ein stärker werdendes Schwindelgefühl plagte ihn. Von den zahlenden Kunden seines Teams hatte ihn keiner überholt, nur Sherpas und Bergführer waren vorbeigezogen. Er freute sich darüber, nicht aus Ehrgeiz, sondern weil er merkte, dass sich sein Körper allmählich an die Höhe gewöhnte und so zu funktionieren begann, wie er es von ihm erwartete.
»Du hast dich gestern auch nicht bei der Party sehen lassen?« fragte Anne, die neben Tiago, der mit einer kleinen Videokamera die Berge ringsum filmte, vor einem Zelt saß und Tee trank.
»Nicht lange«, schnaufte Jonas und ließ sich auf seinen Rucksack fallen.
»Idiotische Idee«, sagte Tiago, die Kamera in seine Anoraktasche schiebend. »Partys braucht hier sowieso niemand, die kann man später in Kathmandu feiern. Und noch dazu einen Tag vor dem Khumbu – besonders verantwortungsvoll ist das ja nicht.«
Er hielt Jonas einen Becher mit Suppe hin. Jonas griff dankend danach und trank, ohne sich darum zu kümmern, dass er sich die Lippen verbrannte.
»Wie lange seid ihr schon da?«
»Knappe Stunde. Mir haben meine Steigeisen ein wenig zu schaffen gemacht, das hat uns aufgehalten.«
Nun, da er saß, überkamen Jonas wie aus dem Nichts entsetzliche Kopfschmerzen und eine lähmende Mattigkeit. Seine Beine waren bleiern, und das Atmen fiel ihm schwerer als während des Aufstiegs. Schweigend hörte er sich an, was Tiago über seine Steigeisen zu erzählen hatte. Nach einer Weile gesellte sich Ang Babu zu ihnen, seine Miene war wie üblich heiter, als hätte er gerade einen guten Witz gehört. Er klopfte Jonas auf die Schulter.
»Du bist wieder in Form, mein Freund!«
»Ich bin mir da noch nicht so sicher«, sagte Jonas.
»Ich schon. Ist euch übrigens der Turm da unten aufgefallen, der aussieht wie eine tanzende Frau?«
»Wie eine tanzende Frau?« Tiago holte die Kamera wieder hervor und richtete sie auf den Sherpa. »Mann, erzähl, wie lange warst du bei dieser Party, und was hast du dir da durchgezogen?«
»Hör auf mit dem Theater«, sagte Anne. »Ich weiß, welchen er meint.«
Tiago schwenkte mit der Kamera auf sie. »Gib mir ein Lächeln, Baby.«
Sie streckte den Mittelfinger hoch. Tiago schaltete die Kamera aus und steckte sie weg.
»Ungefähr eine Viertelstunde von hier«, sagte Ang Babu. »Der ist gefährlich. Der steht nicht mehr lange. Die Frau wird ihre Arme sinken lassen, und dann wird sie wohl ganz zusammenkrachen. Unter der möchte ich nicht begraben werden.«
»Hier möchte ich sowieso nirgends begraben werden«, sagte Tiago. »Aber lieber hier als am Kinley. Ich glaube, der McKinley ist der größte Arsch von einem Berg, den sie gebaut haben. Wenn Berge Typen wären, wäre der Everest ein leicht zerstreuter alter Knabe, ein bisschen bösartig, so ein ehemaliger Dockarbeiter, der dich unter normalen Umständen in Frieden lässt, wenn du ihm sein Pfeifchen gibst und ihm vielleicht sogar eine Flasche hinstellst. Der McKinley dagegen ist ein Kneipenschläger, ein Irrer, der plötzlich mit dem Klappmesser vor dir steht, da brauchst du ihn gar nicht provoziert haben.«
»Es gibt Leute, die würden dich McKinley nennen«, sagte Anne.
»Ach, die kennen mich eben zuwenig.«
»Wir sehen in diesem Berg keinen Dockarbeiter, sondern etwas Heiliges«, sagte Ang Babu und marschierte zu einem Vorratszelt, in das zwei
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