Das größere Wunder: Roman
abgeben oder uns nach Hause liefern, das ist mir egal. Aber merkt euch eines: Wenn einer von euch meinen Bruder in Zukunft auch nur schief ansieht, passiert etwas.«
Die dicke Wirtin mit den haarigen Kinnwarzen stellte ihm das Telefon auf die Theke. Während Jonas wählte, hörte er hinter sich eine bekannte Stimme. Er drehte sich um und sah seine Mutter, die zwischen zwei vierschrötigen Kerlen mit roten Gesichtern saß, vor sich mehrere leere Schnapsgläser. Er ließ den Hörer sinken und drückte mit der Hand auf die Gabel.
»Was starrst du so, Kleiner?« schnauzte ihn einer der Männer an.
»Mutter?«
Die Männer schauten auf seine Mutter, dann auf Jonas. Sie reagierte nicht, sondern stierte in ein leeres Glas, das Gesicht zu einer betrunkenen Grimasse verzerrt.
»Hau ab!« sagte der zweite Mann. »Deine Mama ist nicht hier. Such dir woanders eine Mama!«
Die beiden Männer brachen in wieherndes Gelächter aus. Seine Mutter stammelte etwas vor sich hin. In Jonas stieg eine Welle von Übelkeit hoch. Er wandte sich um und wählte die Nummer von zu Hause. Regina hob ab. Es dauerte eine Weile, bis Zach an den Apparat kam. In knappen Worten erklärte Jonas, was geschehen war.
»Du solltest dich vielleicht beeilen. Die scheinen hier auf etwas zu warten, entweder auf Verstärkung oder auf die Polizei.«
Nachdem er aufgelegt hatte, wollte er das Gespräch bezahlen und stellte fest, dass er kein Geld hatte. Die Wirtin winkte ab. Er dankte ihr und verließ das Gasthaus, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Das war ein Gegner, der stärker war als er.
Vor der Tür atmete er auf, als er nirgends Uniformen sah. Zugleich kam ihm das Ganze seltsam vor. Polizisten waren Leute, die man nach dem Weg fragen oder in Not um Hilfe bitten konnte. Nun drehte er sich ständig nach allen Seiten um, voller Angst, irgendwo könnte ein Blaulicht aufleuchten. Er hielt es für unwahrscheinlich, vermutlich hatte Vera übertrieben, wegen Prügeleien unter Jungs rückte die Polizei nicht aus, selbst wenn es etwas heftiger zur Sache ging. Doch erschien ihm schon der bloße Gedanke unerträglich, wie ein Straftäter behandelt zu werden, und sei es nur für Minuten, bis sich der wahre Sachverhalt aufklärte.
Wenn er sich aufklärte.
Es war eine ungeordnete Welt, in die er da hineingeboren worden war.
Mike saß in der Wiese und riss Grashalme aus. Jonas setzte sich zu ihm und umarmte ihn. Kurz darauf war Mike eingeschlafen.
»Kommt das oft vor?« fragte Vera. »Dass er einfach so einschläft, am hellichten Tag, noch dazu sitzend?«
»Selten. Wenn er sich sehr aufgeregt hat.«
Vera nickte und streckte sich in der Wiese aus. Werner zog schweigend seine Kleider an. In der Ferne erklang die Sirene eines kleinen Ausflugsschiffs.
»Tut mir übrigens leid«, sagte Vera gedämpft. »Dass ich am Anfang etwas forsch gewesen bin. Ich wollte nicht respektlos sein.«
»Schon okay.«
Jonas blickte auf den See hinaus, wo andere Badegäste schwammen, Ball spielten, in Booten ruderten. Die Berge und die sinkende Sonne spiegelten sich auf dem Wasser. Er fühlte sich traurig und leer.
Eine mehr als ungeordnete Welt war es, in der er da lebte. Eine Welt, in der es Behinderte gab, die verprügelt und schikaniert wurden. Eine, in der Mütter ihr Leben nicht aushielten und es vom Alkohol bestimmen ließen.
Warum waren Menschen so? Warum gingen sie auf jemanden los, der sich nicht wehren konnte? Warum waren sie bereit, einen anderen zu verletzen, oder machten sich sogar einen Spaß daraus? Dachten sie je über Gut und Böse nach? Und wenn nein, warum nicht? Hielten sie diese Gedanken für Zeitverschwendung, oder waren sie zu dumm dafür?
Ja, vielleicht lag die Sache so: Die Menschen waren zu dumm, um gut zu sein. Zumindest einige.
»Die meisten«, hörte er Werner sagen.
In seinem Kopf.
Er starrte Werner an. Der starrte bleich zurück.
»Was ist nun schon wieder los?« fragte Vera und schaute vom einen zum anderen.
15
Im fahlen Schein der Deckenlampe zog sich Jonas mühsam an. Ihn fror, ihm war übel, und geschlafen hatte er kaum. Für einige Sekunden fühlte er nichts als Verzweiflung und hatte nur den Wunsch, von hier zu verschwinden. Abzusteigen, in Lukhla das nächste Flugzeug zu nehmen und von Kathmandu aus irgendwo hinzufliegen, wo die Sonne auf ein türkises Meer schien, nach Thailand oder Sizilien oder gleich nach Moi. Oder doch erst nach Tokio, um nachzusehen, ob Marie in der Wohnung gewesen war. Vielleicht sogar gerade unter der Dusche
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