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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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sie? Wie sah sie aus? Wo lebte sie, wie lebte sie, war sie glücklich? Was hielt sie genau jetzt in der Hand? Wie würde ihr all dies gefallen?
    Wer war sie?
    Jonas überlegte, wann er das letzte Mal hiergewesen war. Im Frühjahr? Jedenfalls vor dem Unglück. Und sonst war wohl auch niemand hiergewesen. Um den Garten musste sich dringend jemand kümmern, er begann zu verwildern.
    Oder wir lassen ihn eben verwildern, dachte er. Was spricht eigentlich dagegen? Kartoffeln werden wir hier nie setzen wollen.
    Im Haus war es wegen der dicken alten Steinmauern kalt und trotz der Mittagszeit so dunkel, dass er Licht machen musste. Im Kühlschrank fand er eine Flasche Limonade. Er trank sie leer, obwohl sie widerlich süß schmeckte. Von Mikes Lieblingsjoghurt waren drei Becher da, er warf sie in den Müll.
    Er schlenderte durch den großen Saal, in dem noch immer überall Spielzeug verstreut war, das sie mit zwölf toll gefunden hatten und dem er inzwischen keinerlei Wert beimaß. Zwölf und sechzehn: zwei Leben.
    Als er am Tisch vorbeikam, war er irritiert. Er schaute genauer hin und entdeckte neben den Handschuhen, die sie beim Schlagtraining verwendeten, ein Kuvert. Es enthielt einen Schlüssel.
    Im ersten Moment verstand Jonas nicht. Dann musste er sich setzen.
    Der erste neue Schlüssel seit jenem für die Hauskapelle.
    Kurz bedachte Jonas, ob er warten sollte, bis Werner zurück war, aber dann sagte ihm eine innere Stimme, dass er es gewesen war, der diesen Schlüssel hatte finden sollen.
    Im Flur gab es sieben versperrte Türen. Mit den Jahren hatten Jonas und Werner vielfältige Vermutungen angestellt, was sich hinter welcher Tür verbarg. Hinter einer wähnten sie den Aufgang zu den Räumen im oberen Stockwerk, von denen sie nur die zugezogenen Fenster kannten, die sie vom Garten aus sahen und hinter deren Vorhängen sich niemals etwas geregt hatte, hinter einer anderen erwarteten sie den Abgang zum Keller.
    Er versuchte den Schlüssel an jener Tür, die seine Neugier immer schon am stärksten erregt hatte, der einzigen, die rot gestrichen war. Die rote Tür war ein fixer Begriff für Werner und ihn geworden, das Geheimnis hinter der roten Tür.
    Der Schlüssel sperrte nicht.
    Ein wenig enttäuscht wandte er sich der nächsten Tür zu. Auch hier funktionierte der Schlüssel nicht, ebenso wenig wie bei Tür Nummer drei, vier, fünf und sechs. Er musste über sich selbst lachen, als er den Schlüssel in Schloss Nummer sieben steckte.
    Der Schlüssel sperrte auch an Tür Nummer sieben nicht.
    Entgeistert kehrte Jonas zur roten Tür zurück und nahm sich darauf noch einmal die übrigen sechs vor, doch das Ergebnis blieb dasselbe.
    Hier stimmte etwas nicht. Dass er einen Schlüssel fand, der keine Tür dieses Hauses öffnete, war unmöglich.
    Denk nach. Eine Tür. Gibt es noch eine Tür? Eine, die wir all die Jahre übersehen haben?
    Er lief in den Garten und umrundete das Haus. Beim ersten Mal entdeckte er nichts, doch als er das zweite Mal an der Rückseite des Gebäudes nach Spuren einer verborgenen Tür suchte, fiel ihm der mächtige Brennholzstapel an der Mauer auf, der in den vergangenen vier Jahren kaum kleiner geworden war, so selten hatten sie sich in Wintermonaten hier oben aufgehalten.
    Holzscheit um Holzscheit begann er zur Seite zu werfen. Ein Splitter fuhr ihm unter den Fingernagel. Der Schmerz war heftig, doch weder der Schmerz noch das unter dem Nagel hervorquellende Blut minderte den Eifer, mit dem er den gesamten Stapel einige Meter nach rechts versetzte.
    Nach einigen Minuten hatte er den oberen Teil der Tür freigelegt. Als kein Scheit mehr das Schloss blockierte, versuchte er den Schlüssel.
    Er sperrte.
    Er entfernte die restlichen Scheite. O Mann, dachte er, o Mann, o Mannomannomann.
    Die Tür knarrte schaurig. In den Raum, der vor ihm lag, fiel kaum Licht. Jonas tastete nahe dem Eingang nach einem Lichtschalter und wurde schnell fündig.
    Das Gewölbe, das Jonas betrat, war nur spärlich eingerichtet und erinnerte am ehesten an einen Hobbykeller. Wenn man davon absah, dass der Boden und die hintere Wand von einer Plastikplane bedeckt wurden und außer einem Tisch die einzigen Möbelstücke zwei Klappstühle waren, die an der Wand mit der Plane standen.
    Jonas ging wieder nach oben. In der Küche versorgte er notdürftig seinen Finger.
    Er dachte nicht viel. Er saß im Garten, er lag in der Wiese, er ließ im Saal den Tischtennisball auf der Tischplatte hüpfen und lauschte dem hallenden Klang

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