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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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hinterher. Er ging wieder hinaus, setzte sich unter einen Baum und lehnte den Rücken gegen den Stamm. Die Finger der unverletzten Hand grub er in die Erde.
    Dieser Kamin da ist auch kein besserer Mensch als du, egal was du tust.
    Dieser Zaun auch nicht. Dieses Gebüsch erst recht nicht. Die traurige Wahrheit ist: Das Gebüsch ist nicht gut und nicht böse. Der Zaun ist nicht gut und nicht böse. Ich bin nicht gut und nicht böse und werde es niemals sein, das ist die Tragödie dieser Welt, die ohnehin eines Tages enden und nicht mehr sein und in der Vergessenheit versinken wird mitsamt allem Verstand und allem Leben und allen Werten, und auf die bis dahin kühn und groß die Sonne scheint, egal wer da ist und sie sieht und wer nicht da ist und sie nicht sieht, ob gut, ob böse, ob gewollt oder ganz ohne Absicht.
     
    Am Abend ging Jonas mit Picco in ein Restaurant.
    »Wollen wir erst essen oder erst reden?« fragte Picco.
    »Großen Appetit habe ich nicht.«
    »Wie du möchtest.«
    Picco wartete, bis der Kellner die Getränkebestellung aufgenommen hatte, und bat ihn, die Tür zum Hinterzimmer, in dem sie als einzige Gäste saßen, hinter sich zu schließen.
    »Klären wir einmal das Grundsätzliche«, sagte er, als sie allein waren. »Der Arzt?«
    »Nein.«
    Picco zog die Augenbrauen hoch, seine Kiefer mahlten. Jonas hielt seinem Blick stand.
    »Schön. Und der Postbote?«
    Auch jetzt wich Jonas dem Blick seines Ziehgroßvaters nicht aus, der eigentlich sein Ziehvater war und den er in seinem Leben nur einmal mit diesem Gesichtsausdruck gesehen hatte. Seine Antwort kam ruhig und ohne Zögern.
    »Ja.«
    »Weißt du, was du da sagst?«
    »Ja.«
    »Du bist dir über die Tragweite dessen, was du da sagst, im Klaren?«
    »Ja.«
    »Du weißt, dass es immer ein Morgen gibt, ein Übermorgen und einen Tag darauf, dass das nie aufhört? Dass nichts von dem, was du heute tust, ohne Auswirkungen auf das ist, was kommt?«
    »Ja.«
    Sie schauten einander schweigend an, zwei Minuten, drei Minuten, fünf.
    »Ich kannte deinen Vater«, sagte Picco.
    »Das hatte ich mir schon fast gedacht.«
    »Nicht gut, aber gut genug, um zu wissen, was für ein Mensch er war. Er war ziemlich außergewöhnlich. Ich wollte nur, dass du es weißt.«
    Jonas nickte.
    »Was geht dir gerade durch den Kopf?« fragte Picco.
    »Danke für den Schlüssel.«
    »Schlüssel? Hast du einen neuen gefunden?«
    »Tu nicht so, als wüsstest du das nicht.«
    »Ich wusste nichts von einem Schlüssel. Ich habe damit nichts zu tun, und mehr sage ich dazu nicht.«
    »Sagst du mir zumindest, wie es dir geht?«
    »Wieso mir?«
    »Du warst doch beim Arzt. Was gibt es für Neuigkeiten?«
    Der Kellner erschien mit den Getränken und entschuldigte sich für die Verspätung, er habe in den Weinkeller gehen müssen.
    »Das macht gar nichts. Ich denke, wir sind soweit. Jonas, was hast du ausgesucht?«
     
    Später am Abend saß Jonas im Baumhaus, das Mikes Lieblingsplatz gewesen war und das eine kleine Laterne erhellte, die von Nachtfaltern und Moskitos umschwärmt wurde. In den Stamm der Kastanie, die das Haus trug, hatte Mike Zeichnungen geschnitzt, und an der Wand hingen Fotos von den drei Jungen, für die er selbst Rahmen aus Karton angefertigt hatte, bemalt und mit Blumen beklebt.
    Ein batteriebetriebenes Radio stand zwischen alten Kissen in der Ecke. Jonas schaltete es an. Es war auf einen Jazzsender eingestellt. Er mochte Jazz nicht besonders, aber er ließ es laufen.
    »Jonas?« rief Regina vor dem Haus. »Bist du da draußen?«
    »Hier oben! Brauchst du etwas?«
    »Vera ist am Telefon!«
    »Sag ihr, ich rufe zurück!«
     
    In der Nacht schlief er unruhig. Er träumte den Wellentraum. Diesmal schwamm er im Meer, als sich vor ihm eine gigantische Wasserwand erhob. Er hatte noch nie etwas so Ungeheuerliches gesehen wie diese Welle, die auf ihn zurollte.
    Gott kommt. Hier kommt Gott.
    Jonas duckte sich, tauchte unter, rollte sich zusammen. Es gab einen Aufprall.
    Jonas schlug die Augen auf. Er war aus dem Bett gefallen.
    Sechs Uhr früh. Er schaute aus dem Fenster. Die Luft war frisch, der Wald gegenüber lag im Morgennebel. Im Haus war es noch ruhig.
    Er machte sich in der Küche Tee. Bis sieben las er die Zeitungen der vergangenen Wochen. Er duschte, zog sich um, holte sich aus der Bibliothek ein Buch, das er in seine Reisetasche packte. Für Zach hinterließ er den Schlüssel zum Keller, den er am Vortag entdeckt hatte, obwohl er annahm, dass das nicht nötig war. Dann

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