Das größere Wunder: Roman
hätte er sich noch ausführlicher bedankt, doch schon dieses kurze Gespräch hatte ihm beinahe die letzte Kraft geraubt.
Hoffentlich ist es keine Lungenentzündung, dachte er gerade, als Padang noch einmal zurückkam.
»Das habe ich ganz vergessen. Wenn du aus den Ohren zu bluten beginnst, setz dich erst mal hin und mach gar nichts. Warte, ob es vorbeigeht. Wenn nicht, hast du ohnehin Pech gehabt.«
»Moment mal, Padang. Was hast du da eben gesagt?«
»Wenn du aus den Ohren zu … nein, ich kann nicht, es ist zu komisch, du solltest dein Gesicht sehen! Das war ein Witz, vergiss es!«
An den Weg zwischen seinem eigenen Zelt und dem Messezelt, wo sich das Team versammelte, erinnerte er sich schon bald nicht mehr, und er hatte keine Ahnung, wie er ihn bewältigt hatte. Es gelang ihm, den Anschein zu erwecken, als hörte er Hadans knapper Ansprache zu, und dann setzte er sich mit den anderen in Bewegung.
Gehen: einen Fuß vor den anderen stellen. Die Füße tragen das, was über ihnen ist. Aus dem Fuß wächst das Bein, aus dem Bein der Rumpf, über dem Rumpf ist der Kopf, im Kopf wuchert die Stille.
Im Laufe des Vormittags wurde sein Zustand besser. Ihm war, als würde er allmählich aus einem etwas zu ausgedehnten Schlaf erwachen, doch er fühlte die wachsende Festigkeit seiner Schritte, und er hatte den Eindruck, das Fieber sei gesunken.
»Ich liebe Padang«, sagte Jonas zu dem Sherpa, der, mit enormen Lasten bepackt, schon seit einer Weile neben ihm ging.
»Padang ist klug.«
»Das ist er. Wie lang gehen wir noch?«
»Bis Lager 1 eine Stunde, bis Lager 2 – das hängt von dir ab.«
»Was meinst du mit Lager 2? Ist nicht Lager 1 unser Ziel heute?«
»Nein, ihr geht bis Lager 2.«
Jonas hielt es nicht für angezeigt, dem Sherpa zu verraten, dass er sich in Anbetracht einer gerade erst überwundenen Fieberkrise lieber erholt hätte, und fragte möglichst gleichmütig:
»Und wie geht es dann weiter? Ich höre bei den Teambesprechungen ehrlich gesagt nie richtig zu.«
»Ihr übernachtet in Lager 2, dort bleibt ihr für eine Nacht, vielleicht zwei, dann steigt ihr hoch zu Lager 3, dann wieder runter. Am nächsten Tag hinunter ins Basislager.«
»Wie hoch ist Lager 3?«
»Etwa 7200 Meter.«
Jonas ließ diese beeindruckende Zahl auf sich wirken.
»Und was machst du? Du bleibst auch in Lager 2?«
»Nein, ich laufe hoch zu Lager 3. Soll ja die Sauerstoffflaschen da auf meinem Rücken raufbringen.«
»Du gehst direkt vom Basislager hoch zu Lager 3?«
»Ja. Ich muss mich beeilen. Schaffst du es allein?«
»Na klar, wieso denn nicht?«
»Dir geht es gut?«
»Mir geht es hervorragend, wieso?«
»Dann sehen wir uns vielleicht morgen in Lager 2.«
Der Sherpa war schon ein gutes Stück voran, blieb jedoch wieder stehen und wartete auf Jonas.
»Hast du etwas vergessen?«
»Kannst du es nicht wenigstens mir verraten?« fragte der Sherpa.
»Was denn verraten?«
»Wieso du uns verstehst.«
»Wieso ich euch – ach, wieso ich eure Sprache verstehe?«
»Ja, genau. Verrate es mir!«
»Das fragen alle, aber ich weiß es wirklich nicht.«
Der Sherpa zwinkerte ihm zu, grinste und sagte verschwörerisch: »Ich verspreche dir, ich sage es niemandem!«
»Ich verspreche dir, ich auch nicht«, entgegnete Jonas, »weil ich es nämlich nicht weiß.«
Mit einer wegwerfenden Handbewegung lief der Sherpa weiter. Während Jonas ihm nachschaute, wurde er von Mitgliedern eines fremden Teams überholt. Er beobachtete, wie sie geschickt eine Leiter überquerten, die der Gletscher wohl in der Nacht davor stark verbogen hatte, und leerte währenddessen eine ganze Flasche Wasser, von der er nicht wusste, wie sie in seinen Rucksack gelangt war.
Er passierte Lager 1, ließ sich von den anderen beglückwünschen und von Hadan über den Weg zum nächsten Lager instruieren.
Ohne langen Aufenthalt ging er weiter. Er hatte das Gefühl, einen Rhythmus gefunden zu haben, der ihm die Kraft geben würde, Lager 2 zu erreichen, das immerhin fast 1400 Meter über der Stelle eingerichtet war, an der er sich heute Nacht fiebernd und schlaflos gewälzt hatte. Nur stehenbleiben durfte er nicht, er durfte nicht innehalten, nicht denken.
Und so war er zum ersten Mal unterwegs im Western Cwm, dem zweiten Canyon dieser Erde, den er seit seiner Kindheit zu sehen wünschte, und war kaum fähig, die märchenhafte Schönheit jenes schwach ansteigenden Gletschers zwischen der Südwestwand des Everest und dem Nuptse zu erfassen. Zwar
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