Das größere Wunder: Roman
war das Fieber weg, doch bemerkte Jonas nun immer stärker die Auswirkungen des Sauerstoffmangels auf sein Gehirn.
Er schrieb es auch den Wirrungen seines Verstandes zu, als ihm eine Gruppe Westler eine Leiche zeigte, die etwas abseits vom Weg im Eis lag, er hielt schon bald beides für Einbildung, die sensationslustigen Westler und den Toten im Schnee. Im blitzartigen Schreck einer bösen Sekunde hielt er sich sogar selbst für den Toten.
32
In welchen Zug er sich setzen sollte, wusste er nicht. Sofort nach Frankreich zurückzufahren erschien ihm undenkbar, sosehr er sich auch wünschte, Vera und Werner wiederzusehen. Er wollte allein sein, doch er wollte nicht bloß allein sein. Er wollte nichts tun, zugleich sehnte er sich danach, etwas Großes zu tun. Am liebsten hätte er sich zweigeteilt und als der eine Jonas zugesehen, wie der andere als leuchtender Stern am Himmel explodierte.
In der Wartehalle studierte er den Aushang, an dem die Zielbahnhöfe der nächsten Züge aufgelistet waren.
Paris? Zu romantisch. Er war erst sechzehn. Außerdem wartete seine Freundin auf ihn und war inzwischen vermutlich bereits ziemlich ungehalten, da passte Paris erst recht nicht.
Rom? Zu früh. Für Rom war er zu jung.
Hamburg? Schon besser. Aber – nein.
Budapest? Bukarest? Belgrad? Brüssel?
Genua? Nein.
Zürich? Amsterdam? Mailand? Auch nicht. Gab es denn nichts Interessanteres?
Jonas las den Namen der nächsten Stadt und war elektrisiert.
Als er am Schalter die Fahrkarte kaufte, merkte er, wie dasselbe Gefühl in ihm aufstieg, das er damals im Garten empfunden hatte, die Flasche mit dem Olivenöl in der Hand.
Er suchte sich ein freies Abteil und war sich bewusst, dass das, was er zu tun im Begriff war, wenig Sinn hatte und gerade dadurch Freiheit bedeutete. Auch wenn er nicht verstand, wie das eine mit dem anderen genau zusammenhing.
In Kiel bat er einen alten Taxifahrer, ihn zur billigsten Herberge der Stadt zu bringen. Die Fahrt dauerte kaum fünf Minuten, und der Fahrer wollte kein Geld annehmen. Als er den Kofferraum öffnete und nach dem Gepäck griff, schob Jonas ihm unbemerkt einen Hundertmarkschein in die Seitentasche seiner löchrigen Strickweste.
Der Rezeptionist schwitzte stark, roch nach Alkohol, hatte schmutzige Fingernägel und fettige Haut. Er stellte keine Fragen, wollte nicht einmal Jonas’ Pass sehen und warnte ihn nur, er solle mit dem Licht aufpassen. Trotz seiner Erscheinung fand Jonas ihn sympathisch, und er fragte sich, was einen Menschen dazu bringen konnte, sich so zu verlieren. Der Mann wirkte weder dumm noch böse, nur einsam. Am liebsten hätte Jonas ihn gefragt, ob er ihm irgendwie helfen konnte.
Das Zimmer war weniger schäbig als erwartet, zumindest war es nicht schmutzig. Dafür entdeckte er an der Nachttischlampe ein kaputtes Kabel mit einem blanken Draht. Die Einrichtung war dunkel und trist.
Jonas öffnete das kleine Fenster und legte sich aufs Bett.
Hier war er nun.
Überall könnte er sein. Er hatte genug Geld in der Tasche, er könnte in einem Nobelhotel in den Schweizer Alpen sitzen und den großen Mann spielen, er könnte mit seinem gefälschten Ausweis in einer New Yorker Bar versuchen, einen Drink zu bekommen, er könnte in London spazieren gehen, er könnte bei seiner schönen Freundin sein und sich das Surfen beibringen lassen, ja vielleicht sollte er das sogar, er könnte auch einfach zu Hause sein, wo alles behaglich und vertraut war, doch er lag hier, auf einem Bett, auf dem weiß Gott wer alles gelegen war, in einem Zimmer, das wirkte, als kämen hierher Menschen zum Sterben, und vielleicht waren hier tatsächlich schon Menschen gestorben, er musste den Rezeptionisten fragen, er lag in einem Bett in einer Stadt, die er nicht kannte und die ihn nicht interessierte, er befand sich in einer Situation, die ihn maßlos fesselte.
Die nächsten drei Tage verbrachte er fast durchgehend im Zimmer, gestört lediglich von einem etwa achtzigjährigen, tauben Zimmermädchen sowie vom Rezeptionisten, der einmal anklopfte, weil er sich Sorgen machte. Zweimal ließ er sich Pizza liefern, einmal ging er zu McDonald’s, aß, trank, kehrte ins Hotel zurück und legte sich ins Bett.
Jonas dachte an zu Hause, an das, was dort gerade geschah, er dachte an Vera und verzehrte sich geradezu nach ihr, er schaute auf die Decke und fragte sich, wer hier schon vor ihm gelegen war und mit welchen Gedanken.
Flüchtige? Matrosen mit ihren Eroberungen? Vertreter? Narren wie
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