Das größere Wunder: Roman
Adresse besorgen, an der Vera und ihre Mutter bis vor zwei Jahren gelebt haben?« fragte er Zach abends am Telefon.
»Wieso fragst du sie nicht selbst?«
»Kannst du sie besorgen oder nicht?«
»Wird nicht so schwierig sein.«
»Ich rufe morgen an.«
»Du wirst langsam wie der Alte. Übermorgen wird ja wohl reichen.«
»Morgen«, sagte Jonas und legte auf.
In einem Elektrogeschäft, das gerade schließen wollte, besorgte Jonas einen Akkubohrer und Schrauben sowie ein handliches Radiogerät. Nachdem er den Einkauf im Hotel abgeliefert hatte, ging er zum ersten Mal in ein Restaurant.
Diese Nacht verbrachte er bei Musik aus dem Radio, auf dem Bett ins Dunkel starrend. Er dachte an Mike, er dachte an Hackl. Er dachte an Vera, lange dachte er über Vera nach. Über die Liebe, darüber, was sie für ihn war und was sie möglicherweise sein sollte, falls sie überhaupt etwas sein sollte und man sie nicht wie ein Kunstwerk einfach nehmen musste als das, was sie zeigte und mit sich brachte, als die Form, für die sie sich eben gerade entschied.
Liebe ist: den leuchtenden Punkt der Seele des anderen zu erkennen und anzunehmen und in die Arme zu schließen, vielleicht gar über sich selbst hinaus.
Hass, vielleicht ist er etwas Ähnliches. Vielleicht hat jemand, der mich hasst, den leuchtenden Punkt meiner Seele gesehen und durch und durch erkannt, jedoch ganz ohne ihn anzunehmen und in die Arme zu schließen.
Es klopfte.
Ehe Jonas öffnete, hatte er die Eingebung, Werner stünde vor der Tür. Doch es war nicht Werner, sondern der Rezeptionist. Er trug ein frisches, aufgeknöpftes Hemd, aus dem dunkles Brusthaar quoll, und war noch betrunkener als sonst.
»Hallo.«
»Ja?«
»Bist du allein?«
»Wieso?«
»Du bist allein, nicht?«
»Und das ist auch gut so.«
Der Rezeptionist holte hinter dem Rücken eine Flasche Gin hervor.
»Wir könnten ja zusammen allein sein. Bei dir oder bei mir, wie du möchtest.«
Jonas schlug die Tür zu und legte sich wieder aufs Bett. Das Radio schaltete er ab, indem er den Stecker aus der Wand zog. Durch das offene Fenster hörte er Autos hupen, Busse vorbei fahren, Passanten lachen, und ab und zu hörte er leise die Arbeit des Meeres.
33
Als Jonas am späten Nachmittag Lager 2 erreichte, fühlte er seine Beine kaum noch. Dies lag jedoch nicht an der Kälte, denn bedingt durch die direkte Sonneneinstrahlung war es im Western Cwm zumindest zeitweise so heiß gewesen wie am Strand von Moi, sondern an der fehlenden Muskelmasse, die ihm die Wochen im Basislager geraubt hatten. Sam hatte völlig recht, wenn er das Basislager als Diätzentrum bezeichnete. Wie sehr es ihn selbst erwischt hatte, war Jonas allerdings bisher nicht aufgefallen.
»Gerade wollte ich los, um dich zu suchen«, empfing ihn Marc. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Landschaft genossen«, schnaufte Jonas.
»So siehst du aus.«
Hadan begrüßte ihn mit einem kräftigen Schulterklopfen. »Sind wir jetzt vollzählig? Geht es dir gut?«
»Ich bin der letzte?«
»Lass das nicht zur Gewohnheit werden. Hast du irgendwelche Beschwerden, weil du plötzlich so schwächelst?«
»Höchstens über die Verpflegung.«
Marc zog ihn mit sich. »Ich bringe dich mal zum Zelt, und dann gibt’s Essen.«
»Kein Essen«, stieß Jonas hervor, »alles, nur nicht Essen. Ich bringe keinen Bissen runter!«
»Du musst aber, es geht nicht anders. Und vor allem trinken, auf dich warten drei Liter Tee. Ich habe aufgepasst, dass ausnahmsweise keiner in den Schnee pisst, der für den Tee geschmolzen wurde.«
Jonas streifte die Überschuhe ab und ließ sich ins Zelt fallen. In der Sekunde wusste er, er würde nie wieder aufstehen. Zumindest nicht bis zum nächsten Morgen. Ebenso fern lag ihm der Gedanke, etwas zu sich zu nehmen, ob flüssig oder fest, er konnte nur daliegen und um Luft ringen, um Luft, die sich seiner Atmung mutwillig und heimtückisch zu entziehen schien. Er hatte das Gefühl, sie sei reichlich da, lasse sich aber aus purem Trotz ausgerechnet von ihm nicht einatmen, und so schnappte er nach ihr wie ein Hund nach einem Stück Fleisch, bis Marc zu lachen begann.
»Du siehst aus wie früher meine Oma, wenn sie vor dem Fernseher eingeschlafen war.«
»Die hat sich in ihrem Schaukelstuhl garantiert lebendiger gefühlt als ich jetzt.«
»Bleib einfach liegen und tu gar nichts, dann wird es irgendwann besser.«
»Meinst du, ich will spazieren gehen? Ehrlich gesagt frage ich mich, ob ich nicht schon jetzt
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