Das größere Wunder: Roman
künstlichen Sauerstoff brauche.«
»Das kannst du vergessen. Und ob du es glaubst oder nicht, wenn du das nächste Mal hier heraufkommst, wirst du dich gut fühlen, jedenfalls den Umständen entsprechend und auf alle Fälle besser als jetzt. Bei 7000 Metern hat man immer eine erste Krise, aber die geht schnell vorbei, und wir sind hier immerhin auf fast 6700. Warst du schon mal so hoch?«
»Über 7000 noch nie.«
»Dann kann ich dir morgen zum persönlichen Höhenrekord gratulieren. Jetzt spar dir die Luft, ich bin gleich mit dem Tee zurück.«
Während Marc unterwegs war, lag Jonas mit geschlossenen Augen da, unfähig, sich umzuziehen, und wünschte sich, ewig so liegen zu bleiben. Er malte sich aus, welche unvorhergesehenen Hindernisse und Zwischenfälle Marc wegbleiben lassen könnten. Er findet den Tee nicht, der Tee ist aus, und es muss erst wieder Schnee geschmolzen werden, er verschüttet den Tee, er vergisst ihn …
»Lebst du noch?«
Jonas öffnete die Augen. »Ich fürchte, ja.«
»Hier, trink das.«
»Marc, ich kann nicht.«
»Jonas, du kannst.«
»Ich will aber nicht.«
Marc stellte Kanne und Tasse ab, kroch ins Zelt, zog den Reißverschluss zu und setzte sich neben Jonas.
»Ich verrate dir jetzt etwas Lebenswichtiges, und du wirst mir gut zuhören.«
»Bin ganz Ohr.«
»Mach die Augen auf. Sieh mich an!«
»Mein Gott! Ich höre doch auch mit geschlossenen Augen!«
»Schau mich an!«
»Recht so?«
»Prächtig. Also. Ob du von diesem Berg heil wieder runterkommst, hängt unter anderem von deiner Fähigkeit ab, dich selbst zu programmieren. Im Basislager schreibt man ein Programm, an das man sich ungeachtet des persönlichen Befindens weiter oben halten muss. Wenn du nicht genügend Flüssigkeit zu dir nimmst, wird dein Blut zäh, und du hast im Handumdrehen ein Ödem im Kopf oder in der Lunge, an dem du mit höchster Wahrscheinlichkeit sterben wirst. Du glaubst ja gar nicht, wie schnell es hier mit dem Sterben geht. Gerade redest du noch mit dem netten Charlie aus Alaska, und zehn Minuten später liegt er mit verdrehten Gliedern tot im Schnee. Das kann jedem passieren, aber denen, die sich gut vorbereitet haben, passiert es nicht so leicht. Deswegen schreibst du dir hier und jetzt in dein Programm, dass du, solange du an diesem Berg bist, nicht aufhören wirst zu trinken und nicht aufhören wirst zu gehen. Du setzt dich da oben am Gipfeltag nicht einfach auf einen Felsen, um zu rasten, das wirst du nicht tun, egal wie kaputt du bist, denn du würdest nie wieder aufstehen. Und du wirst jeden Tag fünf Liter trinken, Wasser, Suppe, Tee, ganz egal was. So. Und damit fängst du sofort an.«
Marc klopfte Jonas mit der Tasse auf den Kopf und schenkte ihm ein.
Jonas schaute in die Tasse, aus der ihm der heiße Tee entgegendampfte, zuckte die Schultern und trank. Zu Anfang bereitete ihm jeder Schluck Schmerzen, doch nach und nach schien sich seine Kehle ein wenig zu öffnen.
»Na? Geht’s besser?«
»Ich glaube, ich schaffe das nie.«
»Du musst ja nicht fünf Liter auf einmal trinken.«
»Ich rede von diesem Berg!«
»Doch, den schaffst du. Vorausgesetzt, das Wetter spielt mit. Für die meisten im Team wird spätestens am Südsattel Endstation sein, aber du kommst rauf. Wollen wir wetten? Um eine entlegene Insel vielleicht? Oder um ein gewisses Museum in Oslo? Oder um diese Wohnung in Tokio?«
»Ich könnte dir den Kopf abreißen. Dass du denen diese ganzen Geschichten weitergeplaudert hast. Aber verrate mir mal, woher weißt du das alles überhaupt?«
»Leute wie du, die selten trinken, vertragen nichts. Damals am Erebus …«
»Der blöde Whisky.«
»So würde ich diesen Fusel nicht nennen. Jedenfalls hast du in jener Nacht nur geredet und geredet und geredet.«
»Na ja, wir dachten, wir würden da überhaupt nicht mehr wegkommen.«
»Ich nicht. Nur ihr. Du und dieser rothaarige Schreihals.«
Ehe Jonas ansetzen konnte, Marc zu ewigem Schweigen zu verpflichten, wurden sie von einem Jüngling mit Pferdeschwanz unterbrochen, der fragte, ob einer von ihnen Arzt sei.
»Ich kann nur minimales Sanitäterwissen anbieten«, sagte Jonas.
»Ich noch weniger«, sagte Marc.
»Das ist besser als nichts«, sagte der Mann zu Jonas. »Ich heiße Michel, ich gehöre zu den Belgiern. Unser Kamerad hat sich das Bein gebrochen.«
»Moment mal«, sagte Marc, »es wird sich doch irgendwo unter den hundert Leuten hier ein Arzt finden!«
»Ich habe überall gefragt, keiner hat sich gemeldet. Bitte
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