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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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er selbst?
    Diese Decke war lange vor mir da. Dieser Nachttisch steht schon seit Jahrzehnten hier, er hat alles gesehen und nichts gesehen, und er steht hier und steht hier, auch wenn ich jetzt hinuntergehe und eine Pasta esse in irgendeiner Pizzeria aus einem Teller mit Blumenmuster, aus dem schon Tausende gegessen haben und der eines Tages unter den ungeschickten Händen eines verkaterten Angestellten mit Halbglatze zerbrechen und in einer grauen Mülltonne enden wird, der Nachttisch steht hier und wird stehen so wie der wurmstichige Schrank, in den vielleicht bereits mein Vater seine Hemden geschichtet hat, falls er einst in Kiel Aufenthalt nahm, wofür es keine Hinweise gibt.
     
    Am vierten Tag suchte er einen Schildermacher auf. Seine Bestellung sei in drei Tagen fertig, versicherte der freundliche alte Mann und bot ihm ein Getränk an, das einen komplizierten Namen hatte und eine Mischung aus Tee und Kaffee war. Jonas trank das Gebräu, ohne eine Miene zu verziehen, und ließ sich vom Alten Geschichten aus seinem Leben erzählen. Darauf unternahm er eine Stadtrundfahrt, die er abbrach, um an der Kieler Förde spazieren zu gehen und auf das tänzelnde Wasser der Ostsee zu schauen.
    Ab und zu überkam ihn die Vorstellung einer Riesenwelle, die von fern auf ihn zurollte. Doch er genoss das Gefühl, das dieses Bild in ihm auslöste, so wie er jeden Schritt, jede Sekunde des leeren Nichtstuns in der Stadt genoss. Er hatte das Gefühl, nahe am Kern seines Wesens zu sein, an dem, was ihn im Innersten ausmachte, ohne freilich auch nur das Geringste davon zu verstehen. Zugleich sagte er sich, dass es Dinge gab, die sich jedem Verständnis entzogen.
    Am Abend rief er zu Hause an.
    »Mir geht es gut«, sagte er. »Ich fahre wohl bald nach Hossegor weiter.«
    »Deiner Freundin solltest du das eventuell auch mitteilen«, sagte Zach. »Wie ich sie verstanden habe, wäre sie mehr als dankbar für ein Lebenszeichen von dir.«
    »Ich habe ihr doch gesagt, ich weiß nicht, wann ich zurück bin. Sie hat also angerufen?«
    »Nicht nur einmal.«
    »Erledige ich sofort. Und?«
    »Ja, dein Brief ist zugestellt worden. Was der Onkel gesagt hat, erzähle ich dir unter vier Augen. Es gab ein paar lustige Details.«
    Die interessieren mich gar nicht, wollte Jonas noch sagen, doch Zach hatte schon aufgelegt.
    Während des Gesprächs mit Vera stellte er sich vor, wo sie sich gerade befand.
    Er kannte den Flur mit dem Langflorteppich, auf dem Werner am Tag ihrer Ankunft Milch verschüttet hatte, den langen massiven Holztisch, an dem sie bei Regenwetter aßen oder wenn es draußen zu heiß war, die Terrasse mit der Hängematte und den Liegestühlen, die schwere Luft überall, im Haus und draußen, und er würde bald dort sein, obwohl er jetzt hier war, in einer Telefonzelle an der Kieler Förde, in der es nach fauliger Banane roch, umgeben von hungrig schreienden Möwen, den Blick auf eine angejahrte Fähre gerichtet, deren Ziel im Baltikum lag.
    »Ich habe eine Schiffssirene gehört«, sagte Vera. »Bist du in der Nähe?«
    »Ich bin nicht einmal in Frankreich. Ich komme bald, versprochen.«
    »Hast du eine andere?«
    Jonas lachte. »Erstens würde ich dir das sagen. Zweitens wüsste ich nicht, wo ich die überhaupt kennengelernt haben sollte.«
    »Ich habe dir eine direkte Frage gestellt und erwarte eine direkte Antwort!«
    »Vera, ich habe natürlich keine andere. Ich brauche bloß noch ein paar Tage allein. Ich war noch nie im Leben wirklich allein.«
    »Na dann, könnte sein, dass du ab jetzt viel Zeit für dich haben wirst.«
    Es knackte und rauschte im Hörer.
    »Was ist los mit dir«, fragte Werner, »wo bleibst du?«
    »Alles bestens, komme bald. Bringst du das bitte Vera bei?«
    »Kannst du mir mal verraten, wo du dich herumtreibst?«
    Jonas versuchte, Werner eine Nachricht zu schicken, doch durchs Telefon funktionierte es offenbar nicht.
    »Ich melde mich wieder«, murmelte er und legte auf.
    Die nächsten drei Tage glichen den ersten. Die meiste Zeit zwang sich Jonas, das Zimmer nicht zu verlassen, und genoss die absurde Befriedigung, die er aus dem Bewusstsein zog, eigene Befehle zu befolgen. Dann und wann verließ er das Haus, um sich die Stadt anzusehen und am Hafen zu sitzen. Er fuhr zu der Schule, in die Vera gegangen war, und besuchte andere Plätze, von denen sie ihm erzählt hatte. Überall machte er Fotos mit dem Fotoapparat, den er sich während eines Zwischenhalts gekauft hatte.
    »Kannst du mir bis morgen die Kieler

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