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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Möglichkeit.
    Und Marie? Wo würde sie sein?
    Die Sonnenfinsternis war in halb Asien zu sehen, doch er tippte auf Delhi oder Mumbai. Dort würde die Totalität am längsten dauern, und die beiden Städte kannte sie noch nicht. Sie würde dort sein.
    Nicht weit weg.
    Er würde nicht dort sein.

34
     
    Als er zehn Tage nach seiner Abfahrt wieder vor dem weißen Bungalow stand, wusste er, dass etwas zu Ende war, er wusste nur nicht, was oder wie viel.
    Anouk sah er sofort, sie lag nackt auf der Terrasse in der Sonne. Dass Vera auch in der Nähe war, entging ihm bei diesem Anblick zunächst. Er merkte es erst, als ihn jemand von hinten an den Haaren packte. Er drehte sich um und wurde im nächsten Moment von Vera beinahe umgerissen. Sie küsste ihn grob. Nur kurz ließ sie von ihm ab, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen, dann zog sie ihn wieder an sich.
    »Vera …«
    Sie packte ihn am Arm und zerrte ihn ins Haus, vorbei an der lachenden Anouk und dem ausdruckslos starrenden Werner, für den Jonas auf dem kurzen Weg nur ein hilfloses Schulterzucken übrig hatte. Sie führte ihn ins Schlafzimmer, streifte den Bikini ab und versuchte so heftig, ihm das T-Shirt vom Leib zu reißen, dass er die Nähte platzen hörte und die Sache lieber selbst in die Hand nahm. Willenlos schüttelte er auch die Hose ab und legte sich zu Vera.
    Ihre Umarmung fühlte sich anders an als sonst, doch dass ihm unbehaglich war, lag nicht an ihrer Forschheit. Die kannte er schon, und es hatte Tage gegeben, an denen sie ihm sehr gut gefallen hatte. Aber nun war etwas anders. Und es lag an ihm.
    Sie griff zwischen seine Beine. Er entwand sich ihr. Sie hielt es für ein Spiel und fasste wieder nach ihm.
    In Gottes Namen, dachte er.
    Nach einigen Minuten ließ sie von ihm ab. Sie legte sich neben ihn und starrte in den Spiegel über dem Bett. Auch er drehte sich auf den Rücken. Die zwei Menschen über ihm waren ihm fremd.
    »Was ist los?« fragte sie.
    »Müde von der Fahrt.«
    Eine ganze Weile hörte er sie atmen, hörte sogar das Geräusch ihrer Lider beim Zwinkern. Er fragte sich, was in ihrem Kopf vorging. Schließlich stand sie auf, zog sich wortlos an und ging hinaus.
    Er stellte sich unter die Dusche. Vera sah er auf der Terrasse wieder, wo sie mit Anouk unter einem Sonnenschirm saß und Postkarten schrieb.
    »Was gibt es Neues?« fragte Werner.
    »Nicht viel. Einen neuen Postboten haben wir.«
    »Wieso denn einen neuen Postboten?«
    »Ja. Einen neuen Postboten.«
    Jonas warf Werner einen Blick zu, den dieser sofort verstand.
    Der?
    Ja.
    »Und jetzt haben wir einen neuen Postboten?«
    »Jetzt kommt wohl ein neuer, ja.«
    Werner nahm sich einen Apfel vom Tisch und rieb ihn an seinem T-Shirt ab.
    »Wahnsinn«, sagte er leise.
    »Was faselt ihr da von Postboten?« ertönte es unter dem Sonnenschirm. »Macht uns lieber etwas zu trinken!«
    »Sofort«, sagte Jonas und ging ins Haus.
    Er fühlte Werners Blick im Nacken.
     
    Vera und Jonas nahmen den Surfkurs wieder auf. Er wunderte sich, wie leicht es ihm fiel, sich auch bei höheren Wellen auf dem Brett zu behaupten, und das Gefühl von Freiheit, das ihn erfüllte, wenn rund um ihn die Gischt spritzte und das Donnern der Welle durch seinen Körper schwang, erschien ihm auf ungreifbare Weise als ein Teil des großen Ganzen, dem er auf der Spur war. Es war ein Teil des Lebens, das er führen wollte, weil es ihm erlaubte, einen Blick auf ein universelles Geheimnis zu werfen, weil es eine Perspektive eröffnete auf etwas, das er werden konnte oder wollte: etwas, das größer war als er selbst.
    Es waren diese Tage, in denen er vieles begriff. Er würde nie ein erfülltes Leben führen können, wenn er nicht versuchte, es einer Sache zu widmen, die größer war als er. Es mochte etwas sein, was er jetzt noch nicht kannte und nicht verstand – sein Leben sollte nicht beschränkt sein auf Inhalte, die den Menschen in Ketten legten, und es sollte nie bestimmt werden von Angst, diesem Monster. Freiheit indes, er fühlte es so stark wie nie, war das höchste Gut. Physische, geistige, seelische Freiheit. Kostbarer als Gesundheit. Wertvoller als Glück. Wichtiger als das Leben selbst.
     
    Abends, wenn sie auf der Terrasse ein simples Kartenspiel spielten, das Anouk ihnen beigebracht hatte, dachte Jonas an die Fotos, die in seiner Tasche steckten. Die Fotos von Veras altem Haus, wo er in der letzten Nacht das »Fanta Street«-Schild angebracht hatte. Sie hatte ihre Wette damals sofort wieder vergessen, doch er

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