Das größere Wunder: Roman
kommt mit!«
»Mein Kumpel hier fühlt sich nicht besonders. Könnt ihr euren Verletzten nicht herbringen?«
Jonas richtete sich auf. »Marc, der Mann hat sich das Bein gebrochen. Wir dürfen annehmen, dass es ihm schlechter geht als mir. Ich komme schon.«
»Bist du sicher?« fragte Marc.
»Nein. Aber du warst es doch, der mir etwas von Programmierungen erzählt hat. Los jetzt!«
Marc half ihm, die Überschuhe anzuziehen. Als Jonas vor dem Zelt stand, wurde ihm schwindlig, doch nach einer Minute ging es. Schwerer fiel ihm, das Hämmern in seiner Brust zu ignorieren.
»Wirklich alles klar?«
»Alles bestens.«
»Wo ist das passiert?« fragte Marc den Belgier auf dem Weg.
»In der Lhotse-Wand. Wir waren dabei, die Stelle zu verfixen, als Jean abgestürzt ist.«
»Wieso, da waren doch schon Fixseile angebracht!«
»Wir wollten unsere eigenen nehmen. Wir brauchen nichts von anderen. Wir wollten ohne fremde Hilfe rauf.«
»Und wann war das?«
»Heute früh. Wir haben ihn abwechselnd auf dem Rücken getragen. Am Nachmittag ging es ihm immer schlechter, und wir wissen nicht warum.«
»Vielleicht hat er sich nicht nur das Bein gebrochen. Oder es ist die Höhe. Auf die Idee, unterwegs nach einem Arzt zu fragen, seid ihr nicht gekommen?«
»Wir wollten erst mal ins Lager.«
Marc warf Jonas einen Blick zu und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Als Jonas das Bein des Verletzten untersuchte, musste er sich zwingen, länger hinzusehen. Es war in der Mitte des Unterschenkels gebrochen und ragte in unnatürlicher Weise zur Seite.
»Habt ihr ihn so transportiert?« rief er heiser. »Habt ihr das Bein nicht geschient?«
»Er wollte nicht«, sagte einer der jungen Männer, die rund um den Verletzten standen.
»Er sagte, es täte so weh«, erklärte ein anderer.
»Wie habt ihr ihn denn nach unten gebracht? Mit dem baumelnden Bein neben der Trage?«
»Die meiste Zeit auf dem Rücken von einem von uns«, sagte Michel. »Er meinte, das sei noch am erträglichsten, solange das Bein nicht zu sehr schlenkerte. War das nicht gut?«
Jonas konnte nicht antworten. Er ging ein paar Schritte beiseite.
»Was ist?« fragte Marc. »Hast du so etwas noch nie gesehen? Ist dir übel?«
»Ja«, sagte Jonas, »so eine Ansammlung von Idioten habe ich noch nie gesehen.«
»Ich unterschreibe jedes Wort, aber was meinst du jetzt genau?«
»Schau doch hin. Sieh dir das mal an! Die legen diesen armen Teufel auf seiner erbärmlichen Trage einfach in den Schnee. Wollen sie ihn tiefkühlen?«
»Warum gehst du nicht hin und hilfst ihm?«
»Erstens, weil ich nicht das Geringste an Ausrüstung habe, um zu helfen. Zweitens, weil der Mann einen richtigen Arzt braucht und außerdem so gut wie tot ist.«
»Tot? Was redest du da?«
»Ein gebrochenes Bein gehört geschient, sonst gerät Knochenmark in die Blutbahn, und es kommt zu einer Fettembolie. Der Junge hat einen offenen Bruch, das Bein hängt seit Stunden einfach so runter …«
»Danke, ich habe verstanden. Und das heißt?«
»Keine Ahnung, wie gesagt, ich bin kein Arzt. Wahrscheinlich können wir zusehen, wie er ins Koma fällt. Oder er ist es schon. Wir brauchen sofort einen richtigen Arzt.«
»Ich höre mich gleich um. Kann mir nicht vorstellen, dass es hier keinen gibt. Diese Kinder haben vermutlich nur falsch gefragt.«
Marc lief davon, und Jonas wandte sich wieder der Gruppe mit dem Verletzten zu.
»Und?« fragte Michel. »Können Sie ihm helfen?«
»Ihr könnt ihm helfen, und zwar auf der Stelle. Habt ihr ein Zelt hier? Noch nicht aufgebaut? Na toll. Gut, darum kümmert ihr euch jetzt. Habt ihr Schaumstoffunterlagen, Schlafsäcke, etwas in der Art? Los, her damit! Hier neben ihn! Wir legen ihn auf diese Schlafsäcke, und mit den anderen decken wir ihn zu, bis das Zelt steht. Macht schon, beeilt euch!«
Es dauerte keine fünf Minuten, bis Marc im Laufschritt zurückkehrte. Die zwei Frauen und der Mann, die ihn begleiteten, waren allesamt Ärzte. Für Jonas gab es nichts mehr zu tun.
Nach einem letzten Blick in die bangen Gesichter der Belgier ging er zurück zu seinem Zelt. Am liebsten hätte er sich mit einem Schrei Luft gemacht, aber dazu fehlte ihm der Atem. Er fühlte sich benommen und ausgelaugt.
Ehe er ins Zelt kroch, stand er noch eine Weile in der Kälte und sah zu, wie sich die Dunkelheit über den Berg legte.
Die Sonnenfinsternis fiel ihm ein. Wo würde er sie erleben? Im Basislager? Weiter oben? Weiter unten? Gar nicht?
Gar nicht, ja, das war auch eine
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