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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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hasste den Gedanken daran, dass in diesem Zimmer bestimmt schon Menschen gestorben waren, so wie er den Gesichtsausdruck der nächsten Schwester hassen würde, die hereinkam, diesen neutralen bis gespielt fröhlichen Gesichtsausdruck, der eine Maske war für ihre Patienten und für sie selbst.
    Krankenhäuser waren Grauzonen. Entweder leben oder tot sein, alles dazwischen war unappetitlicher Hohn.
    Je länger er wach in seinem Bett lag, desto größer wurde seine Wut.
    Wozu das alles? Was für eine grundsätzliche existentielle Bedeutung hatte etwas so Unsympathisches wie die Krankheit an sich, welchen Sinn brachte sie, warum war sie in der Welt? Was war ihre Berechtigung? Wozu hatte die Macht, die hinter diesem Kreuz dort stand, die Krankheit erfunden? Krieg war logischer als Krankheit. Menschen waren Bestien, aber wieso wurden sie krank? Vielleicht wurden sie zu Bestien, weil sie krank wurden?
    Vielleicht sollte er Medizin studieren und Arzt werden?
    Aber dann hätte er wieder mit Krankenhäusern zu tun.
    Über der Betrachtung dieses Problems vergingen weitere zehn Minuten, bis er merkte, wie dringend er zur Toilette musste. Er wollte seine Beine aus dem Bett schwingen und erlebte den größten Schrecken seines bisherigen Lebens. Er konnte sie nicht bewegen.
    Erst schlug sein Herz zweimal die Sekunde, dann dreimal. Er versuchte es abermals, doch in seinen Beinen war keine Kraft.
    Reiß dich zusammen, dachte er. Wer weiß, wie lange du hier liegst. Das nennt man Muskelschwund. Wer zwei Wochen im Bett liegt, muss erst wieder gehen lernen.
    Er kratzte sich am Bein. Er spürte etwas.
    Viel spürte er nicht.
    Es könnten die Medikamente sein. Er war noch nicht gesund. Was immer ihn in dieses Bett gezwungen hatte, es war nicht vorüber.
    Eine dicke, rotbackige Schwester betrat das Zimmer. In ihrer Aufregung, ihn wach anzutreffen, wollte sie gleich wieder umdrehen, um die Neuigkeit zu verbreiten. Er rief sie zurück und erklärte ihr seine Notlage.
    »Toilette, machen wir gleich«, sagte sie in jenem fröhlichen Ton, der Ungezwungenheit ausdrücken sollte und den er sofort hasste, obwohl er wusste, dass es die Frau gut mit ihm meinte.
    Starr verfolgte er, wie sie eine Schüssel unter dem Bett hervorholte. Er konnte gerade noch die Arme heben, um ihr zu zeigen, dass er nichts Derartiges im Sinn hatte, worauf sie die Schüssel an ihren Ort zurückstellte und ein Gefäß mit schnabelartiger Öffnung hervorzauberte, das sie ihm unter die Decke schob. Er fühlte ihre feuchtkalte Hand an seinem Penis, fühlte, wie dieser in den Schnabel gesteckt wurde, und hielt den Atem an. Er war nicht einmal zu dem Einwand in der Lage, dass er das auch selbst geschafft hätte.
    Die Schwester wandte sich um und schaute zu den Neonleuchten an der Decke hoch.
    Das kann alles nicht wahr sein, dachte er.
    Von Scham und Wut erfüllt, wartete er auf eine Erleichterung, die nicht kommen wollte. Die Schwester stand da, er lag da, niemand sprach, draußen auf dem Gang waren Stimmen zu hören, es roch nach Kaffee.
    Sein erstes Gespräch mit Zach kam ihm in den Sinn. Es hatte ebenfalls in einem Krankenhaus stattgefunden, damals, als ihn der Freund seiner Mutter verprügelt hatte. Damals hatte ihm Zach etwas Wichtiges mitgegeben. Immer daran denken, wie schlimm es anderen geht, um wie viel schlechter als dir. Auf der großen weiten Welt gibt es Unglücksraben, die berühren mit nassen Händen schadhafte Elektrogeräte, und ihre nackten Leichen bereiten Zimmermädchen schlaflose Nächte. Es gibt immer jemanden, dem es mieser geht als dir, und es gibt etwas Positives an jeder Situation.
    Na ja, dachte er, den unnatürlich breiten Rücken der Schwester betrachtend. Immerhin habe ich nicht jedes Gefühl da unten verloren.
    Und als Zach ins Zimmer kam, fragte sich Jonas, was wohl eigentlich mit dem Freund seiner Mutter geschehen war, damals, vor so langer Zeit.
     
    Rollstuhl.
    Immerzu sitzen oder liegen zu müssen, umgeben von Menschen, die sich gekünstelt benehmen, solange sie in der Nähe sind, und aufatmen und fröhlich werden, sobald sie sich außer Hörweite wähnen. Als stünde es ihnen nicht zu, in Gegenwart eines Unterprivilegierten guter Laune zu sein, als wäre das ein Zeichen mangelnder Solidarität.
    Selbst Werner verhielt sich am Anfang zurückhaltend. Ihm trieb Jonas das schnell aus, indem er ihm beim Essen Bier über den Kopf schüttete, ihn mit Totenmasken erschreckte und sich noch einige andere Streiche leistete, die Werner verdeutlichen

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