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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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sollten, dass er denselben Menschen wie früher vor sich hatte. Bald begann er, es Jonas wieder mit gleicher Münze heimzuzahlen.
    Alle anderen taten sich damit schwerer, auch Zach. Einmal strich er Jonas sogar über den Kopf.
    »Wirst du alt, Zach?«
    »Ich hoffe, aber ich glaub’s nicht.«
    Über seine rätselhafte Krankheit erfuhr Jonas nicht viel, weil niemand viel darüber wusste. Eine Gehirnhautentzündung war diagnostiziert worden, die Komplikationen nach sich gezogen hatte, wobei schon am Ton, mit dem die Ärzte das Wort »Komplikationen« aussprachen, zu hören war, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatten, wie es zu ebendiesen gekommen war, worum es sich bei ihnen eigentlich handelte und warum er nach wie vor Fieberschübe bekam, die sich meist nach wenigen Stunden legten. Und was mit seinen Beinen los war, konnte auch niemand erklären.
    »Du faules Schwein«, sagte Werner. »Du Aas, du Nichtsnutz, du Tagedieb, du willst dich doch bloß von mir rumschieben lassen.«
    »Bring mir Kaffee, aber schnell.«
    Er ging wirklich auf der Stelle los. Mit schlechtem Gewissen rief ihn Jonas zurück.
    »Doch, du könntest mir aber einen Gefallen tun.«
    »Ich weiß«, sagte Werner, »aber ich mach’s nicht.«
     
    Wenn er später an diese Wochen und Monate dachte, roch diese Zeit für ihn nach Gummi. Nach heißem, verschmortem Gummi. Den Geruch von Benzin hatte Jonas immer gemocht, doch der von Gummi war nicht angenehm.
    Er übersiedelte in ein freies Zimmer im Erdgeschoss, und Picco fragte ihn rundheraus, ob es ihm dort gefiel oder ob er einen Lift einbauen lassen sollte.
    »Ich werde bald wieder gehen können«, sagte Jonas.
    Er wusste es. Er würde sich freimachen von der Kraft seines Gegners. Er hatte zwar noch keine Ahnung wie, aber es würde ihm gelingen, das stand fest.
    Die Ärzte waren skeptisch. Nur einer, sein Name war Dr. Schwarzenbrunner, er war bei weitem der jüngste, klang optimistischer.
    »Irgendwoher ist es gekommen«, sagte er beschwörend, »irgendwohin wird es verschwinden, irgendwann.«
    »Sie sind mir ja ein toller Arzt«, sagte Picco.
    »Wie kriegt man überhaupt eine Gehirnhautentzündung?« fragte Zach.
    »Die kann jeder kriegen«, sagte Werner. »Hast du sicher mal gehabt.«
    Zach machte ihm ein verstecktes Zeichen, das Werner signalisieren sollte, er würde ihm bei Gelegenheit die Kehle durchschneiden, doch der Arzt riss das Gespräch mit einer wortreichen Ansprache an sich, in der er seine Zuversicht bekundete.
    »Ihrem Enkel fehlt nichts Organisches«, schloss er, »zumindest ist weder auf dem CT noch auf dem MR noch in seinem Blutbild etwas Ungewöhnliches zu finden.«
    »Dann steh auf!« sagte Picco. »Sehen Sie? Er steht nicht auf.«
    »Warten Sie ab.«
    »Wie lange? Monate? Jahre?«
    »So lange wird es nicht dauern, glaube ich.«
    »So lange wird es ganz bestimmt nicht dauern«, sagte Jonas.
    »Und wieso bist du dir da so sicher?« erkundigte sich Werner mit hörbarem Zweifel.
    »Weil ich es will.«
    »Viele Leute wollen viele Dinge und kriegen sie nicht.«
    »Die sind nicht ich und nicht in meiner Situation. Ich will. Ich werde.«
    »Wie wäre es, wenn du deinem Willen die Bedeutung des menschlichen Konstrukts der Zeit verdeutlichst?«
    »Du könntest mir einen Gefallen tun«, sagte Jonas.
    »Ich weiß«, sagte Werner. »Mach ich nicht.«
     
    Anfang Februar war Jonas aus dem Krankenhaus entlassen worden, Ende März, wenige Tage nach einer Fieberattacke, bemerkte er erstmals wieder Gefühl in seinen Oberschenkeln, und in der zweiten Aprilwoche kehrte ein wenig Gefühl in seine Kniekehlen zurück. Aufstehen konnte er noch nicht, doch er sah den Fortschritt und war mehr denn je entschlossen, sich in sein altes Leben zurückzukämpfen.
    Werner war der einzige, dem er von diesen Entwicklungen erzählte, er wollte niemandem falsche Hoffnungen machen. Zwar war er überzeugt, dass er am Ende aus diesem Rollstuhl aufstehen und ihn mit eigenen Händen in die Garage schieben würde, aber er wollte besonders Regina, die sich die ganze Sache sehr zu Herzen nahm und sogar ihr eigenes Essen verdächtigte, für die Krankheit verantwortlich zu sein, nicht unnötig aufregen, weder im Guten noch im Schlechten.
    »Sie könnte recht haben«, sagte Werner.
    »In Bezug worauf?«
    »Ihr Essen. Diese Nudeln zu Silvester. Ein Wunder, dass es keine Toten gegeben hat.«
    »Kannst du dich an Anouks Gesicht bei ihrem ersten Bissen erinnern?«
    Werner kicherte.
    »So etwas hat die Arme in ihrem ganzen Leben

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