Das größere Wunder: Roman
Ausnahmegenehmigung des Ministeriums notwendig gewesen war.
Eine Woche nach den Prüfungen eröffnete ihm Vera, sie würde mit ihrer Mutter nach Deutschland zurückziehen.
»Nach Kiel?« fragte Jonas betroffen. Er dachte an die Fotos, die zwei Meter von ihnen entfernt in seiner Schreibtischschublade lagen.
»Nach Osnabrück. Sie hat da eine Stelle angeboten bekommen. Sie meint, ich hätte mich innerlich so weit gefestigt, dass wir es wagen könnten, nach Deutschland zurückzukehren. In ihrer Vorstellung gibt es in österreichischen Kleinstädten keine Drogen, in Städten wie Osnabrück ein wenig Drogen, in Kiel durch einen ärgerlichen Zufall viele Drogen, und in Molochen wie Berlin regnet es Drogen, die laufen einem dort quasi nach, viele viele Drogen sitzen da auf der Straße und warten nur darauf, junge Mädchen zu überfallen.«
»Osnabrück.«
»Ja.«
»Ich weiß nicht mal, wo das liegt.«
»Ich schon, aber es hat mich bislang nicht interessiert. Ich soll dort die Schule fertig machen.«
»Hm.«
»Du bist ja schon fertig.«
»Hm, ja.«
»Ich will auf etwas hinaus, Mann!«
»Ja?«
»Du könntest doch mitkommen.«
»Nach Osnabrück?«
»Warum nicht?«
»Was mache ich in Osnabrück?«
»Was machst du hier?«
»Leben.«
»Genau.«
Der Wind raschelte in den Bäumen, vor der Garage hantierte Gruber mit Werkzeugen, die ihm ständig aus der Hand rutschten, Regina stocherte ungeschickt im Gemüsegarten herum, schmiss mit ausgerissenem Unkraut um sich und schimpfte zu Gruber hinüber.
Jonas stand vom Holztisch auf, an dem sie sich nach ihrem Waldspaziergang niedergelassen hatten, und pflückte einen Apfel. Er schmeckte sauer. Jonas schleuderte ihn über das Haus. Plötzlich war ihm kalt.
Alleinsein und Einsamkeit waren verschiedene Dinge, das hatte er schon früher gewusst, doch als Vera immer mehr zu einer bloßen Erinnerung wurde, lernte Jonas, worin der Unterschied wirklich bestand. Wenn er Zeit mit der Familie verbrachte, war er weder allein noch einsam, und es ging ihm gut. Wenn er durch den Ort schlenderte oder in seinem Zimmer lag und las oder Musik hörte, war er allein, und es ging ihm gut. Wenn er sich nachts von einer Seite auf die andere wälzte, wenn er nachmittags zufällig am See landete oder an einem anderen Ort, den er mit Vera verband, ging es ihm nicht gut, und er war einsam.
Ohne es auszusprechen, war ihm immer bewusst gewesen, dass die Zeit mit Vera ein Ende haben würde. Unklar war nur, Wann und Warum. Wann, das wusste er nun, warum, das wusste er noch immer nicht. Denn Osnabrück war kein Grund, Osnabrück war nur ein Anlass. Veras Mutter hatte ihnen eine schwierige Entscheidung abgenommen.
Woran merkte man, dass man jemanden nicht mehr liebt?
Wie erfuhr man, ob es Sinn hatte, es weiter zu versuchen? Und wie gewöhnte man sich wieder daran, nicht umarmt zu werden, nicht geküsst, nicht begehrt? Allein zu sein und zuweilen einsam?
Gewiss, es gehörte zum Leben. Doch wie gewöhnte man sich an das Leben, ohne aufzuhören, es ernst zu nehmen?
Am Tag vor Silvester rief der Boss die Jungen nacheinander in sein Arbeitszimmer. Er wollte von ihnen erfahren, wie sie sich ihre Zukunft vorstellten.
»Geld ist kein Problem«, sagte er, »das versteht sich von selbst. Du wirst nie gezwungen sein zu arbeiten, du wirst über deine Zeit frei verfügen können. Was schwebt dir vor?«
»Das kann ich noch nicht beantworten, tut mir leid«, sagte Jonas. »Mich interessiert alles und nichts.«
»Ich glaube, du bist jetzt alt genug, um diesen Rat anzunehmen: Entschuldige dich nie. Das ist ein Zeichen von Schwäche. Ganz egal, wem gegenüber, ganz egal, was du getan hast, entschuldige dich niemals.«
»Tut mir leid, diesen Rat werde ich wohl eher nicht beherzigen, aber danke.«
An der Art, wie Picco lachte, erkannte Jonas, dass es ihm besserging. In seinem Blick lag wieder mehr Energie, er wirkte unternehmungslustig und fast schalkhaft. Jonas schöpfte Hoffnung. Eine Weile hatte es schlecht ausgesehen.
»Auch recht«, sagte Picco. »Willst du studieren?«
»Vielleicht.«
»Also nicht?«
»Ehrlich gesagt zweifle ich daran, in einer Universität das zu finden, was ich suche.«
»Was suchst du denn?«
»Die lange Antwort oder die kurze?« fragte Jonas und erschauerte, weil er einen Blick auf das Reiterbild geworfen hatte.
»Die lange.«
»Ich suche Zusammenhänge. Ich möchte verstehen, wie es in der Welt von A bis Z kommt, mir genügt es nicht zu beobachten, wie A zu B wird
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