Das größere Wunder: Roman
nicht vorgesetzt bekommen.«
Werners Lachen steckte Jonas an. Auf dem Höhepunkt ihres Lachanfalls warf Jonas den Tennisball, den er schon den ganzen Tag knetete, um die Arme trainiert zu halten, Werner mit voller Wucht zu, und der fing ihn keine drei Zentimeter vor seiner Nase mit einer Hand auf. Kurz darauf kam der Ball ebenso unerwartet zurück, da lachten sie noch immer. Jonas fing den Ball und sagte:
»Du könntest mir einen Gefallen tun.«
»Werde ich wohl müssen, nicht?«
»Jetzt?«
»Wenn du bereit bist?«
»War ich immer.«
»Dann los.«
Der Kombi wäre für diese Zwecke praktischer gewesen, doch mit dem war Gruber einkaufen gefahren. Werner setzte Jonas auf den Beifahrersitz des Mercedes. Den Rollstuhl klappte er zusammen und legte ihn in den Kofferraum, ohne sich darum zu kümmern, dass sich der Deckel nicht mehr schließen ließ und ihm bei der Fahrt die Sicht nach hinten versperrt war.
»Wohin unterwegs?« fragte Zach, der wie üblich aus dem Boden zu wachsen schien.
»Ausflug«, sagte Werner.
»Vorsichtig sein«, sagte Zach.
»Sind wir doch immer.«
»Ihr seid so vorsichtig wie Dschingis Khan.«
Jonas war neugierig, ob Werner tatsächlich erriet, welchen Gefallen er meinte, doch wahrscheinlich wusste er es genau. Manche Dinge mussten nicht ausgesprochen werden. Die Richtung, in die er fuhr, stimmte jedenfalls.
Unterwegs hielt sie Angerer auf, der Dorfgendarm, der sie seit ihrer Kindheit kannte und dessen Frau sie in den ersten zwei Schuljahren unterrichtet hatte. Sie war dabei fast verzweifelt, was nichts an des Gendarmen Sympathie für die Jungen geändert hatte.
»Na, Burschen, eine Spritztour?«
»Wir wollen Bärlauch pflücken. Wie geht es Ihrer Frau?«
»Bärlauch, so seht ihr aus. Und es geht ihr gut, sie hat gerade heute von euch geredet. Ihr seid mir hoffentlich vorsichtig.«
»Sind wir immer.«
Angerer schüttelte melancholisch den Kopf und winkte sie vorbei.
»Ob der weiß, dass wir keinen Führerschein haben?«
»Weiß er, und es ist ihm egal. Er will keinen Ärger. Eine gesunde Einstellung für einen Vertreter der Staatsgewalt. Außerdem glaube ich, er weiß noch viel mehr, er ist nämlich nicht ganz dumm.«
»Woran denkst du?«
»Jonas, wenn Hilfsarbeiter, Zahnärzte und Postboten verschwinden, fällt das irgendwann auf, speziell in einer Gegend, wo gewöhnlich keiner verschwindet. Und wenn Zeugen berichten, der Zahnarzt sei zuletzt mit zwei Männern gesehen worden, von denen der eine weit über zwei Meter groß war, muss man ja kein Raketenwissenschaftler sein, um dahinterzukommen, dass es davon in der Gegend nur einen gibt.«
»Auch richtig.«
»Hast du gezählt, wie oft Angerer schon mit Picco im Weinkeller war? Und kennst du sein Auto? Sein Haus? Kann sich ein einfacher Landgendarm so etwas leisten?«
Am höchsten Punkt der Straße, wo die Piste begann, parkte Werner den Wagen neben einem Stapel frisch gefällter Bäume in der Wiese.
»Und du willst das wirklich tun?«
»Schon viel länger, als ich hier drin sitze. Wieso, fällt dir etwas Besseres ein?«
»Einiges«, lachte Werner und lud den Rollstuhl aus. »Oder nein, eigentlich nicht. Ich ärgere mich nur, dass immer du die besten Ideen hast.«
Er setzte Jonas in den Rollstuhl und schob ihn auf die Straße.
»Von hier an bist du allein verantwortlich«, sagte er. »Stoß werde ich dir keinen geben.«
»Ist nicht notwendig«, sagte Jonas und beschleunigte die Räder mit den Händen, bis der Stuhl über die Kuppe rollte.
»He!« rief Werner hinter ihm. »Keine großen letzten Worte?«
»Nachher«, rief Jonas zurück.
Über diesen Moment hatte er lange nachgedacht, und er war sich sicher, dass ihm nichts zustoßen würde, solange ihm kein Auto entgegenkam, denn der Rollstuhl war bei einem solchen Tempo wohl kaum zu lenken. Bremsen gab es keine, und dementsprechend geschockt war Jonas, als er auf der anderen Seite des Tals ein Auto auftauchen sah.
Er saß auf seinem rollenden Marschflugkörper, der jede Sekunde auseinanderzufliegen drohte, und dachte nach. Eine Möglichkeit, dem anderen Fahrer, der vielleicht von der Sonne geblendet wurde, ein Zeichen zu geben, fiel ihm nicht ein. Er musste lachen.
Schöne Scheiße, dachte er. Das war’s.
Das war’s natürlich nicht, dachte er. Irgendwann wird es das gewesen sein, aber nicht hier und nicht heute.
Sich mit aller Kraft nach hinten stemmend, um nicht kopfüber auf die Straße zu fallen, stellte er fest, dass er dem Autofahrer immerhin schon
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