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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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aufgefallen war, denn dieser betätigte hektisch die Lichthupe, ohne jedoch auf die Idee zu kommen, seinen Wagen anzuhalten oder vielleicht gar auf die Seite ins freie Feld zu lenken.
    Heiliger Jesus, dachte er, was ist das für ein Trottel?
    Später würde er Werner und noch viel später Marie erzählen, wie lebendig er sich in diesen Sekunden gefühlt hatte, wie lebendig und unantastbar. Er würde ihnen berichten, wie sehr er trotz seiner Angst jeden Moment genossen und sich zugleich wie ein Narr gefühlt hatte. Er kam sich albern vor in diesem Mörderstuhl, doch dieses Gefühl, zwischen ihm und der Ewigkeit läge nichts als ein kurzer Augenblick, ein Farbwechsel, ein Wimpernschlag, ein Ton, berührte ihn nachhaltig. Es war noch großartiger, als er es sich ausgemalt hatte.
    Allerdings musste nun das Problem mit dem entgegenkommenden Wagen gelöst werden.
    Er erkannte den Kombi kurz vor der Talsohle, als er die Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte und der Rollstuhl ihn zusätzlich mit einem hässlichen metallischen Knirschen zu beunruhigen begann. Hinter dem Steuer sah er das dumme Gesicht Grubers, der, die Augen schockgeweitet, beinahe ins Lenkrad zu beißen schien. Jonas gelang es noch, die Hand zum Gruß zu heben, ehe er den Stuhl mit einem kurzen, kräftigen Ruck nach rechts in den Graben lenkte.
    Der Stuhl stoppte an einem großen Stein, und Jonas hob ab.

37
     
    Beim Abstieg begegnete Jonas kurz vor Lager 1 einem Mann, der ihm ansatzlos ins Gesicht spuckte.
    Ein Irrer, dachte er, ein Höhenkranker.
    Der Mann stieg jedoch mit kräftigen Schritten weiter auf, und nichts an ihm wirkte, als sei er in irgendeiner Weise verwirrt oder geistig eingeschränkt. Rasch wischte sich Jonas den Speichel ab, ehe dieser womöglich festfror, und beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Auf ihn wartete der Khumbu, und der würde seine gesamte Konzentration beanspruchen.
    Er schaffte es auch ein sechstes Mal ohne Zwischenfall durch das Labyrinth an Eistürmen, und die Luft, die er darauf im Basislager atmen durfte, erschien ihm dick und belebend wie nie zuvor.
    »Habe ich dir ja prophezeit«, sagte Hadan. »Der Anfang ist zäh, aber wenn man durchhält, gewöhnt man sich an fast alles.«
    Jonas schilderte ihm sein seltsames Erlebnis vor dem Eisfall. Hadan bat ihn, den spuckenden Bergsteiger zu beschreiben.
    »Ein knallgelber Daunenanzug, sagst du? Schau mal da rüber.«
    Jonas wandte den Kopf in die angezeigte Richtung. Vor dem gelben Hauptzelt des Nachbarteams wehte die gelbe Flagge ihres Sponsors, und alle Mitglieder liefen in gelben Daunenanzügen herum. Es waren die Bulgaren.
    »Ach ja, richtig«, sagte Jonas.
    »Das kann nur Hristo gewesen sein. Ich bin mir sicher, dass er es war.«
    »Und was treibt ihn zu so einer Feindseligkeit? Ich bin dem Menschen doch im ganzen Leben nicht über den Weg gelaufen.«
    »Das macht für ihn keinen Unterschied. Er denkt anders. Betrachte mal dieses Bild, ein einziges gelbes Gewimmel. Für ihn heißt es nicht, er gegen mich, sondern sie gegen uns. Ich hatte gestern eine kleine Auseinandersetzung mit ihm, als er erst demonstrativ unsere Luxustoilette benützte und sich danach weigerte, zur Teamleiterbesprechung zu kommen. Offenbar hat er dich da oben als Mitglied meines Teams identifiziert, und das ist bereits ausreichend für offene Animositäten.«
    »Was ist passiert?« fragte Nina. »Was habe ich da gehört, er hat dich angespuckt?«
    Binnen Minuten hatte sich die Neuigkeit im ganzen Team herumgesprochen, was Jonas, der die Sache auf sich beruhen lassen und ganz bestimmt nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen wollte, so unangenehm war, dass er trotz seiner Erschöpfung nach dem Abstieg nicht zu seinem Zelt ging, sondern am anderen Ende des Basislagers in der Buddha Bar einkehrte. Er bestellte beim Rastamann eine Literkanne Tee, ehe ihm einfiel, auf die Uhr zu sehen. Bis zur Teambesprechung blieb noch eine Dreiviertelstunde.
    Neben ihm saß ein junges Paar, von der Kleidung her mehr Trekker als Bergsteiger, das über die Sonnenfinsternis redete. Die Frau kam ihm bekannt vor, er war sich beinahe sicher, ihr schon einmal begegnet zu sein. Er erinnerte sich jedoch weder an ihren Namen, noch daran, wo das gewesen sein mochte.
    Wie viele Menschen es gab, die den Eklipsen überall auf der Welt hinterherreisten, die der Sonne dabei zusehen wollten, wenn sie sich kurz versteckte, hatte ihn verblüfft. Marie war es, die ihm einige dieser Leute vorstellte und ihn in einen Kreis von

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