Das größere Wunder: Roman
und B zu C. Ich will wissen, warum man liebt, warum man nicht liebt, was gut und was böse ist und ob es beides gibt, ich will wissen …«
»Danke, das reicht«, unterbrach ihn Picco, »das ist ja fürchterlich. Und die kurze Antwort?«
»Antworten werden überschätzt.«
»Sehr gut! Ausgezeichnet! Aber diesmal will ich trotzdem noch eine hören. Was suchst du?«
»Mich natürlich! Ich bin siebzehn. Ich schreibe schwülstige Gedichte und lese die Romantiker.«
Wieder lachte Picco. »Du tust nichts dergleichen, und du bist nicht siebzehn. Du bist etwa sechsundzwanzig. Vielleicht achtundzwanzig. In deinem Alter war ich ungefähr dreiundzwanzig.«
»Sechsundzwanzig bin ich? Davon merke ich leider nichts.«
»Nun, was immer du tun musst, tu es. Die einzige Sünde ist Nichtstun. Das würde ich euch nie verzeihen. Wer so geboren wird und aufwächst wie ihr, hat auch eine Verpflichtung.«
»Die Verpflichtung wozu?«
»Euch auszuschöpfen, eure Grenzen auszuloten. Die Menschen zu werden, die zu werden euch möglich ist.«
»Da sind wir einer Meinung. Ich kann bloß nichts Großartiges in mir erkennen.«
»Das wird sich hoffentlich ändern. Wichtig ist im Leben eigentlich nur, dass man offen bleibt und dass man den Mut hat, ein neues Leben zu führen, eines, das noch niemand zuvor gelebt hat. Die meisten Leute sind feige und beschränken sich darauf, eines zu leben, das es schon oft gegeben hat. Mit denen wirst du Schwierigkeiten kriegen, aber das braucht dich nicht zu kümmern. Sie sind neidisch, und sie haben Angst vor dir, und mit beidem haben sie durchaus recht.«
Am Silvesternachmittag stieß er in der Bibliothek auf Anouk, die mit einem Buch auf der Couch lag, ein Glas Rotwein neben sich.
»Störe ich?«
»Nicht wirklich.« Sie setzte sich auf. »Ich würde ohnedies nur einschlafen.«
»Vielleicht keine schlechte Idee, jetzt zu schlafen. Dann verkraftest du leichter, was nachher passiert.«
»Jonas, ich bin vierundzwanzig, nicht vierundachtzig, ich kann schon mal ein paar Stunden länger aufbleiben, ohne vorschlafen zu müssen.«
»Du kennst Zach nicht.«
»Was hat das mit ihm zu tun?«
»Er feiert nie und trinkt nie, mit einer Ausnahme im Jahr. Silvester hat für ihn eine große Bedeutung. Einmal haben wir ihn erst am 5. Januar wieder unter Kontrolle bringen können.«
»Und was ist in der Zwischenzeit geschehen?«
»Das möchtest du nicht wissen.«
»Und wie ich das wissen will!«
»Nun, möglicherweise willst du es wissen, aber hinterher wirst du es nicht gewusst haben wollen.«
»Jetzt machst du mich erst recht neugierig. Erzähl!«
»Ich sage kein Wort, denn damit riskiere ich mindestens einen gebrochenen Daumen. Du kannst ja Werner fragen. Jedenfalls wirst du frühestens übermorgen wieder schlafen können. Du wirst Angst haben, dass du im Schlaf verbrennst. Lach nicht, ich meine das ernst. Du wirst kein Auge zutun, und du wirst, weil es das erste Mal ist, die Sache nicht lustig finden.«
»Wer ist Zach überhaupt?«
»Frag ihn doch.«
»Ich frage dich.«
»So genau wissen wir das nicht. Als Kinder haben wir uns die wildesten Geschichten über ihn ausgemalt. Söldner der Fremdenlegion, Berater asiatischer Könige, etwas in die Richtung. Jetzt spielt es keine Rolle mehr.«
»Und wieso unternimmt niemand etwas dagegen, wenn er so eskaliert?«
Bei der Vorstellung, wie er und Werner versuchten, etwas gegen den betrunkenen Zach zu unternehmen, kicherte Jonas in sich hinein.
»Erstens ist es nicht so einfach, Zach zur Vernunft zu bringen, wenn er feiert. Manchmal hilft es, an seine Verantwortung allem Ungeborenen gegenüber zu appellieren, aber verlassen kann man sich nicht drauf. Zweitens mögen wir ihn. Wir mögen ihn sogar sehr.«
»Ja und? Das ist doch kein Grund, sich anzünden zu lassen.«
»Ach was. Wir passen eben auf, es passiert schon nichts. Wenn man jemanden wirklich gern hat, sieht man über seine Schwächen hinweg.«
Anouk nickte beifällig, doch in ihrer Stimme lag unverkennbar Spott, als sie sagte:
»Sehr weise für dein Alter.«
»Nicht wahr? Weißt du denn, wie alt ich bin?«
»Auf den Tag genau so alt wie Werner, ich habe eure Geburtstagsfeier nicht vergessen.«
»Also warum bist du mit ihm zusammen?«
»Ich verstehe die Frage nicht.«
»Du bist vierundzwanzig, er siebzehn. Ich habe keine moralischen oder andersgearteten Einwände dagegen –«
»Vielen Dank!«
»Ich will es nur verstehen. So etwas ist ja ungewöhnlich.«
»Da hast du recht. Wenn die
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