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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Frau älter ist, ist es ungewöhnlich, stimmt. Du meinst, warum bin ich mit ihm zusammen, abgesehen davon, dass ich ihn liebe? Oder warum ich ihn liebe?«
    »Keine Ahnung. Beides irgendwie.«
    »Abgesehen davon, dass er der beste Mensch überhaupt auf diesem Planeten ist, der mitfühlendste und sensibelste und zugleich stärkste und witzigste? Weil ich Genies mag.«
    Jonas wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte.
    Anouk goss sich Wein nach und schenkte auch ihm ungefragt ein Glas ein.
    »Jonas, ich war zusammen mit einem Bodybuilder, der war gar nicht so dumm, aber er war langweilig. Ich war zusammen mit einem Manager, der war auch nicht dumm, aber er hatte nur Autos und Zahlen und sein blödes Pferd im Kopf. Ich war zusammen mit einem Blumenhändler, der war dumm und hatte immer schmutzige, zerschnittene Hände. Ich war zusammen mit ein paar Jungs, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere und die wahrscheinlich nicht einmal ihren eigenen Namen schreiben konnten. Ich hatte einen Barbesitzer, einen Surflehrer, einen Vagabunden, einen Lehrer. Ich hatte einen Universitätsprofessor, der ein wandelndes Lexikon war, und einen Fußballer, der seine freie Zeit am liebsten damit verbrachte, mit Kindern aus den Elendsvierteln auf der Straße zu spielen, um sie von den Drogen abzuhalten. Sie alle waren gute Männer, und sie alle waren einfach, im Gegensatz zu Werner, der der komplizierteste Mensch der Welt ist.«
    Sie drehte den Stiel ihres Glases zwischen den Fingern und sah ihn darüber hinweg an.
    »Keiner von ihnen hatte etwas, das ihn groß machte. Werner hat das. Irgendwann wird er mich nicht mehr wollen, doch bis dahin nehme ich mir alles, was ich von ihm kriegen kann. Geistig, meine ich natürlich. Geld interessiert mich nicht.«
    Jonas ließ Anouks Worte auf sich wirken. Im Haus mehrten sich fremde Stimmen, offenbar trafen die ersten Gäste ein. Er blickte hinaus auf die Schneelandschaft und fragte sich, ob er selbst je so eine Liebeserklärung zu hören bekommen würde.
    »Und du bist überzeugt, er wird eines Tages von dir genug haben? Nicht umgekehrt?«
    »Ich werde von diesem Jungen niemals genug haben.«
     
    Wenn er später zurückdachte, meinte er sich zu erinnern, dass er sich schon während dieser Unterhaltung anders gefühlt hatte als sonst. Noch nicht direkt krank, aber anders.
    Das Fieber kam nach dem Essen. Zu diesem Zeitpunkt war Zach bereits unternehmungslustig, und Picco erwog mit Hohenwarter, ob sie ihn unter einem Vorwand in die Garage schicken sollten, um ihn dort einzusperren. Jonas dachte, der Schwindel und das Hitzegefühl rührten vielleicht von dem Glas Wein am Nachmittag, und wollte sich für eine Stunde hinlegen.
    Wochen später erfuhr er, dass sie kurz vor zwölf versucht hatten, ihn zu wecken, er aber nicht mehr ansprechbar gewesen war. Sein Zustand war offensichtlich derart besorgniserregend, dass selbst Zach schlagartig nüchtern wurde, seine römische Toga ablegte und ihn in ein Krankenhaus brachte.
     
    Das erste Mal wach wurde Jonas drei Wochen später. Er begriff, wo er war, und verlangte von der Schwester, die gerade seinen Tropf einstellte, mit Nachdruck zu erfahren, um welches Krankenhaus es sich handelte. Als er hörte, es sei nicht das, in dem Mike gestorben war, schlief er wieder ein.
    Der erste Mensch, den er wiedersah, war kurioserweise Harry, der Schweinehirte, der ihn besuchte, drei Tage danach.
    »Wie geht es Gruber?« murmelte Jonas.
    »Was will er denn mit dem?« fragte Zach, der irgendwo in der Nähe stand.
    »Er meint eine Sau«, erklärte Harry. »Es geht ihr hervorragend. Wie den anderen auch. Du musst sie bald besuchen kommen. Kannst du mir Geld leihen?«
    Der letzte Satz war geradezu schmerzhaft leise gesprochen, und Jonas fragte sich beim Umdrehen, ob er ihn sich eingebildet hatte.
    Wieder zwei Tage später erwachte er, ohne erneut ins Koma zu fallen.
    Er war allein im Zimmer. Mehrere Blumensträuße schmückten den Raum, der Fernseher lief ohne Ton, ein Wintermantel über einer Stuhllehne zeugte von einem abwesenden Besucher. Vergeblich versuchte Jonas zu ergründen, wem er gehörte.
    Als Nächstes stellte er fest, dass er es zu oft mit Krankenhäusern zu tun hatte und ihm das allmählich auf die Nerven ging.
    Er hasste alles hier. Er hasste den Geruch, er hasste die Farbe an den Wänden, er hasste die Betten mit dem abblätternden Lack, er hasste den Linoleumboden, er hasste das Kreuz an der Wand, er hasste die Trostlosigkeit der alten Fenster, er

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