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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Stress können wir uns nicht leisten. Tiago, ich sehe, du möchtest etwas sagen. Lass es lieber sein.«
    Tiago, der in der ersten Reihe stand, lachte höhnisch, blieb jedoch still.
    »Der zweite Punkt betrifft die Ernährung. Ich musste feststellen, wie sehr bei einigen von euch allmählich gewisse Versäumnisse ins Gewicht fallen, auf die ich euch mehrmals und mit Nachdruck hingewiesen habe. Ihr merkt doch selbst, wie sehr ihr sogar hier im Basislager körperlich abbaut, ihr werdet weniger und weniger, euer Körper, auf der verzweifelten Suche nach Energie, frisst euch auf. Wenn ihr nichts zu euch nehmt, wird dieser Prozess naturgemäß beschleunigt.
    Mir ist schon klar, dass von großem Appetit bei keinem die Rede sein kann. Doch macht euch bitte bewusst, wie sehr euer Erfolg und sogar euer Leben davon abhängen, ob ihr genug esst und trinkt. Am Gipfeltag allein werdet ihr zwischen 12 000 und 15 000 Kalorien verbrauchen. Könnt ihr euch ungefähr vorstellen, was das heißt? Ihr kommt vielleicht rauf, aber dann ist die Batterie leer, und ihr kommt nie mehr runter. Padang!«
    Auf dieses Kommando hin begannen Padang, Pemba und die Küchenjungen damit, Teller mit dem üblichen Gemisch von Reis und Weizenkleie und Gemüse aufzutragen, das Jonas schon beim Hinsehen den Magen umdrehte. Er nahm sich eine halb gefrorene Banane, die er sich umständlich unter seinem Anorak in seine Achsel steckte, um sie aufzutauen, und verschwand in Richtung seines Zelts.
    Er fasste das Duschzelt ins Auge, das am Rand des Lagers aufgestellt worden war. Beim Gedanken, jemand könnte jetzt in dieser Kälte eine Dusche nehmen, schüttelte es ihn.
    Wirklich, eine grauenhafte Vorstellung.
    Er bat einen der Sherpas, ihm aus dem Küchenzelt zwei Gießkannen mit heißem Wasser zu bringen. Er kroch in sein Zelt und holte sich ein Handtuch und frische Kleidung. Die Banane steckte er unter sein Kopfkissen.
    Jonas hatte extreme Kältesituationen in verschiedenen Teilen der Erde erlebt, er wusste, wie kalt es nahe dem Südpol werden konnte, er kannte die Nachtkälte der Wüste und die eisige Luft auf offener See, doch eine Dusche in diesem Zelt, das nur aus vier dünnen, nicht ganz bis zum Boden reichenden Planen bestand, die im Wind wehten, bedeutete auch für ihn eine gewisse Überwindung.
    Er zog sich aus, biss die Zähne zusammen, fügte dem Wasser in der Gießkanne ein paar Hände voll Schnee hinzu, hängte die Kanne in die dazugehörige Vorrichtung über sich, goss sich endlich das warme Wasser über den Kopf und bemühte sich, nicht an die Kälte zu denken.
    Er wusch sich die Haare, was dringend notwendig gewesen war, und stellte danach zu seinem Erstaunen fest, dass sie eingefroren waren. An den Spitzen hingen Eiszapfen, über die er so herzhaft lachen musste, dass er für einen Moment sogar die Kälte vergaß.
    Ich bin ein Idiot, dachte er, besser stinken als erfrieren.
    Als er über spitze kalte Steine aus der Dusche stieg, das Badetuch um die Hüften geschlungen wie in einer warmen Wohnung, stand Marc vor ihm.
    »Du hast dich nicht verändert.«
    »Inwiefern?«
    »Um diese Uhrzeit hier zu duschen, das fällt nur einem völlig Übergeschnappten ein.«
    »Ich bin keineswegs übergeschnappt, ich bin bloß reinlich.«
    »Was ist das für ein Tattoo auf deinem Arm?« fragte Marc.
    »Ein Tattoo eben«, sagte Jonas, zog sich zähneklappernd an und ging zu seinem Zelt.

38
     
    Als Kind hatte sich Jonas einmal die Hand gebrochen, als er während des Essens harmlos mit dem Stuhl umgekippt war, und so verwunderte es ihn sehr, dass er einen Zwanzig-Meter-Flug und eine Landung im freien Feld mehr oder minder unverletzt überstanden hatte und den Menschen, die voller Sorge zum Unglücksort gerannt kamen, fröhlich zuwinkte. Zwar konnte er einige Minuten lang Werner nicht von Gruber unterscheiden, doch das legte sich, und die paar Kratzer an Armen und Beinen erschienen ihm geradezu läppisch in Anbetracht dessen, was hätte geschehen können.
    »Wir fahren dich trotzdem ins Krankenhaus«, beharrte Werner.
    »Das werdet ihr sicher nicht tun«, sagte Jonas.
    »Sagt dir der Begriff innere Verletzungen etwas?«
    »Du bringst mich bestimmt in kein Krankenhaus. Ich will nie wieder in ein Krankenhaus. Wir fahren nach Hause. Wenn es dich beruhigt, ruf Schwarzenbrunner an, er kann ja vorbeikommen. Aber mir fehlt wirklich nichts.«
    Er ging zum Mercedes, mit dem Werner hinter ihm die Piste hinabgerast war und der nun mitten auf der Straße parkte.
    Werner und Gruber

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