Das größere Wunder: Roman
starrten ihn an.
»Was ist los?«
»Du gehst«, sagte Werner.
Jonas schaute auf seine Beine, als müsse er sich selbst überzeugen. Er sah Werner an, sah Gruber an, schaute wieder auf seine Beine.
»Stimmt eigentlich«, sagte er.
Die Lähmung war weg und kehrte nicht zurück. Was blieb, waren die gelegentlichen Fieberschübe, die sich keiner der Ärzte erklären konnte, niemand fand eine Ursache, nicht einmal der eifrige Schwarzenbrunner.
»Krankheiten eben«, sagte Picco. »Es gibt sie, und Ärzte verstehen sie nicht.«
»Und wir haben sie am Hals«, sagte Hohenwarter.
»Die Krankheiten oder die Ärzte?« fragte Zach.
»Könntet ihr bitte einfach essen?« meinte Regina. »Ich will nichts mehr von Krankheiten hören.«
»Und was, wenn jede Krankheit eine doppelte Ursache hat?« fragte Jonas und schob unauffällig seinen Teller von sich. »Wenn nur wir Menschen sie nicht verstehen? Wenn jede Krankheit durch etwas Reales ausgelöst wird, das wir nicht sehen und erkennen können, obwohl es da ist so wie wir?«
»Was liest du gerade?« fragte Hohenwarter säuerlich, wurde jedoch von Picco unterbrochen.
»Ruhig! Lass ihn reden. Was meinst du, Jonas?«
»Woher kommen Krankheiten wie Krebs? Vielleicht werden sie den Menschen implantiert? Alle Kunden einer Tankstelle bekommen Krebs, alle, die diese Tankstelle an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit besucht haben? Versteht ihr, die Tankstelle ist eine Krebsfalle, vor 13.02 Uhr und nach 13.05 Uhr ist es eine normale Tankstelle, doch während dieser drei Minuten verwandelt sie sich in eine Todeszone. Ähnlich verhält es sich mit dem Verlieben, man betritt zwischen 16.03 Uhr und 16.05 Uhr ein Lokal und trifft die Frau seines Lebens. Manche allerdings nie, so wie manche nie krank werden. Ausgelöst wird das alles durch eine unsichtbare Macht, ein Wesen, das uns vielleicht weder Gutes noch Böses will, alles hängt mit Naturgesetzen zusammen, die wir nicht verstehen.
Ich sage nicht, dass es so ist, ich sage bloß, es ist genauso wenig auszuschließen wie alles andere. Eben weil wir Menschen fast nichts von unserer Wirklichkeit begreifen. Wir kennen von unserer Welt nicht mehr als drei Prozent.«
»Iss weiter, Jonas«, sagte Regina.
Mit einer versteckten Geste Richtung Werner, die Verzweiflung signalisieren sollte, zog er den Teller mit den widerwärtigen Honignudeln wieder an sich. Dabei bemerkte er, dass hinter ihm Anouk mit ihrer Mutter telefonierte. Er war nicht neugierig, doch sie sprach nun so laut, dass er sich die Ohren hätte zuhalten müssen, um nicht mitzuhören. Unwillkürlich versuchte er zu verstehen, was sie sagte, und da geschah es.
Etwas schien in seinem Kopf einzuschnappen, umzuschalten, er spürte es genau. Und im nächsten Moment sprach Anouk Deutsch.
Er verstand jedes Wort, sie sprach mit ihrer Mutter Deutsch. Zugleich wusste er, dass sie Französisch sprach, und zwar ausschließlich Französisch, sie hatte sich sogar geweigert, auch nur drei Worte Englisch zu lernen.
Das ist nicht gut, dachte Jonas.
Er ließ alles stehen und ging nach oben in sein Zimmer. Im Regal fand er eine Platte mit französischen Chansons, die ihm Werner geschenkt hatte, ein übler Scherz, denn nur Reggae fand Jonas noch schlimmer als Chansons. Er legte den Tonarm auf die Scheibe und wartete gespannt auf den Text.
Französisch.
So glücklich war Jonas noch nie gewesen, dieses Herzgeträller zu hören. Was immer da unten passiert war, es hatte sich um einen Irrtum gehandelt.
Anouk kam ins Zimmer.
»Was ist denn mit dir los?« fragte sie auf Französisch. »Du lässt das Essen stehen, um Charles Aznavour zu hören? Aha! Wie heißt sie? Du hast Liebeskummer! Eines seiner schönsten Lieder, findest du nicht auch?«
Unweigerlich konzentrierte er sich auf den Gesang, und diese kleine Anstrengung genügte, um ihn jedes Wort verstehen zu lassen, mehr noch, die französischen Worte verwandelten sich in seinem Kopf in deutsche.
»Was ist passiert?« fragte Werner, der Anouk gefolgt war. »Du bist ja weiß wie die Wand.«
»Die Wand ist alles andere als weiß«, sagte Jonas. »Kannst du bitte ein paar Sätze auf Englisch sagen?«
»Wieso das denn?«
»Frag nicht, tu’s einfach!«
Werner setzte sich auf den unförmigen Gesundheitsstuhl, den sie vor Jahren gemeinsam unter Grubers Anleitung gebaut hatten und der laut Picco das hässlichste Möbelstück war, auf dem je ein Christenmensch hatte sitzen müssen, und begann die amerikanische
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