Das große Buch vom Räuber Grapsch
Nikolaus gesucht, groß, stattlich und, wenn möglich, mit Bart.
„Dafür wärst du doch genau der Richtige!", rief Max.
„Ich bin ein Räuber", sagte Grapsch düster, „und die Polizei hätte mich gern am Wickel."
„Aber das merkt doch keiner, dass du's bist", sagte Max. „Du kommst im Dunkeln und gehst im Dunkeln, und dazwischen bist du verkleidet. Hinterher kriegst du einen Fünfziger auf die Hand. Damit kann Olli einkaufen, was sie will. Na?" Grapsch dachte an Olli. Das wünschte sie sich doch so sehr: dass er ehrlich Geld verdiente!
Das sollst du haben, mein Herzäpfelchen, dachte er, warf Max den Bettbezug über die Schultern und brummte: „Also - auf geht's!"
An diesem denkwürdigen Tag wirbelten unheimliche Schneemassen auf die Erde herab. Es wurde gar nicht richtig hell. Und so gelangte Grapsch, ohne erkannt zu werden, ins Schminkzimmer hinter der Bühne des großen Rathaussaales.
Max rannte fort, um dem Bürgermeister Bescheid zu geben, dass er im letzten Augenblick doch noch einen neuen Nikolaus aufgetrieben habe.
Hastig kehrte er zurück, riegelte das Schminkzimmer von innen zu und begann Grapsch zu verkleiden. Es lag schon alles bereit, und der große rote Mantel war sogar weit genug, nur zu kurz. Max, der Findige, nähte in aller Eile eine Lage Watte an Saum und Ärmel. Dann puderte er Grapschs Mähne und Bart schneeweiß, streute zwei Hände voll Glimmer hinein, malte rote Bäckchen auf die Backen, färbte die Räubernase rot und setzte Grapsch die Zipfelmütze auf.
„Schau mal da hinein", sagte er und schob Grapsch vor den Spiegel.
„Wer ist denn das?", fragte Grapsch misstrauisch. „Niemand anderer als du", sagte Max lachend. Aber das wollte ihm Grapsch nicht glauben. Und schon wurde es im Saal laut. In Juckenau war es Brauch, dass alle Eltern mit ihren Kindern unter sieben Jahren am Nikolaustag vom Bürgermeister und seinen Ratsherren zu einer Nikolausfeier eingeladen wurden. Die hatte immer dieses Programm: Erst sang der Schulchor „Leise rieselt der Schnee", dann sprach der Schuldirektor zu den Kindern, dann sang der Männerchor Harmonie „Morgen, Kinder, wird's was geben", dann sagte ein Kind das Gedicht auf „Von drauß vom Walde komm ich her", dann spielte Frau Stolzenrück Harfe, und die Frau des Bürgermeisters sang dazu
„Vom Himmel hoch, da komm ich her", dann hielt der Bürgermeister eine Rede, dann klingelte ein Glöckchen, und der Nikolaus kam und sprach ein paar Worte zu den Kindern, bevor er durch den Saal wanderte und aus seinem großen Sack Gebäck und Apfelsinen an sie verteilte, dann - unter allgemeinem lauten Geschmatz im Saal -sang der Kirchenchor „Süßer die Glocken nie klingen", dann sprach der Pfarrer. Dabei schliefen die meisten Kinder ein. Die Eltern auch. Aber die Polizei-Blaskapelle weckte sie zum Schluss mit dem Schneewalzer wieder auf. Dann gingen alle heim. So verlief die Juckenauer Nikolausfeier. Seit fünfzig Jahren. Und so sollte sie auch in diesem Jahr verlaufen. Das versuchte Max dem Räuber in aller Eile zu erklären. Aber er musste erschrocken feststellen, dass Grapsch keine Ahnung hatte, was ein Nikolaus ist und tut. Zu Tassilo, dem Räuberkind, war nie der Nikolaus gekommen. Und weil Grapsch nicht lesen konnte, hatte er auch nie Nikolausgeschichten gelesen. Nur manchmal, auf Raubzügen in der Weihnachtszeit, waren ihm die vielen Nikolause auf den Relclamepla-katen und in den Schaufenstern aufgefallen. Er hielt den Nikolaus für eine Art Oberzwerg. Denn von Zwergen hatte ihm sein Großvater erzählt, der ihn großgezogen hatte, nachdem sein Vater auf Nimmerwiedersehen im Knast verschwunden und seine Mutter mit einem Zirkus davongezogen war.
„Du bist also ein alter Mann, der aus dem Wald kommt", erläuterte Max mit Schweißperlen auf der Stirn.
„Alt?", schnaubte Grapsch. „Ich bin fünfunddreißig, höchstens achtunddreißig!"
„Weiß ich", sagte Max ungeduldig. „Aber du musst so tun, als ob du alt wärst. Denk an deinen Großvater! Du musst den Kindern erst erzählen, dass du aus dem Wald kommst und ein großes Buch
hast, in dem alle ihre guten und bösen Taten verzeichnet sind. Und dann drohst du ihnen ein bisschen mit der Rute und sagst ihnen,
sie sollen im nächsten Jahr braver sein. Danach gehst du durch den Saal und teilst allen Kindern aus, was du im Sack hast."
Grapsch begriff überhaupt nichts. Aber schon hörte man draußen im Saal den Schulchor singen.
„Wo ist der Sack?", fragte Grapsch begierig.
Max
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